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Der familienkrach

Ehegattensplitting, Freibeträge, Kindergeld: Mit Milliarden will der Staat die Familie

fördern - aber der Nachwuchs bleibt aus.

  1. Das Leben als klassische Familie, also Vater und Mutter mit Trauschein und eigenen

Kindern, wird von immer weniger Menschen in Deutschland praktiziert. Sehr fremd erscheinen heute schon die fünfziger Jahre, damals wurden 98 Prozent der Kinder in eine klassische Familie geboren.

Kinder fehlen, Familien zerbrechen. Es sinkt nicht nur die Zahl der klassischen Familien, noch drastischer sinkt die Zahl der Familien mit traditionellem Rollenmodell: Blieben Mitte der sechziger Jahre noch zwei Drittel der Ehefrauen zu Hause, um sich um ihre durchschnittlich 2.5 Kinder zu kümmern, so sind es heute noch gut ein Drittel.

Die traditionelle Familie gibt es noch, aber sie hat Konkurrenz bekommen von anderen Modellen. Der Blick in eine beliebige Schulklasse zeigt es. Zum Beispiel in einer Schule in Ham­burg besuchen die Klasse 2a 30 Schüler. Jedes dritte Kind – 10 Kinder von 30 – kommen aus Patch-workfamilien oder getrennten Partnerschaften.

Familie, was ist das? Familie ist, wo man ohne zu fragen zum Kühlschrank gehen kann, wenn man Durst hat.

II. Vater, Mutter, ein, zwei, viele Kinder, Mutter bleibt zu Hause, Vater bringt Geld – das ist

nicht mehr die Regel. Das ist der Sonderfall. Heißt das, die Familie ist vom Aussterben bedroht? Oder muss man sich nur die Vorstellung ändern, was eine richtige Familie ist?

Eine „Revolution'", so sagt es „Time Magazine", frisst sich durch Europa, und nicht Gesetze wie das Elterngeld sind der Motor dieser Revolution, sondern der gesellschaftliche Wandel, auf den sie reagieren.

Die klassische, bürgerliche Familie war sozial und zeitlich immer ein sehr begrenztes Phä-nomen. Sie ist eine Erfindung des Industriezeitalters, denn erst mit der Industrialisierung trennten sich Arbeitsplatz und Wohnort, trennten sich die Aufgabenbereiche von Männern und Frauen: Die Männer gingen in die Fabrik oder ins Büro, die Frauen blieben zu Hause. Was ökonomisch er-wünscht war, wurde mit Ideologie gefestigt: Er sollte sich ganz auf den täglichen Konkurrenzkampf im Kapitalismus konzentrieren. Sie wurde dafür idealisiert – als von Natur aus aufopferungswillige Mutter.

Schon damals allerdings sah die Realität oft anders aus; Arbeiterfamilien konnten es sich meist gar nicht leisten, dass die Frau zu Hause blieb, und viele Bürgerfrauen empfanden ihre Rolle bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert als zu eng. Doch obwohl oder gerade weil die Realität oft anders aussah, hatte diese klassische bürgerliche Familie als Ideal Bestand.

Familie, das ist das Glücksversprechen der Selbsverständlichkeit, das Versprechen einer Liebe, die nicht durch Wohlverhalten verdient werden muss, die nicht prekär ist, sondern verläss-lich, für jedes Mitglied, jederzeit. Gerade an diesen Erwartungen zerbricht sie dann oft – ein Para­doxon der Moderne.

  1. Es mag bitter sein, aber es ist Zeit für einen Abschied, nicht von der Familie, sondern

von einer Illusion. Es gibt keinen Weg zurück.

Forscher des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung haben in einem Vergleich europäischer Länder untersucht, wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Geburten-ziffern auswirken. Ihr Ergebnis muss ins Grübeln bringen: Wo mehr Frauen arbeiten, wo mehr Scheidungen gezählt werden und der Grad der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen als hoch bewertet wird – ebendort ist die Fruchtbarkeit vergleichsweise groß: 1.8 Kinder pro Frau in Schweden, Finnland, Dänemark.

Frankreich macht jetzt Schlagzeilen, hat 2006 den Wert von 2.1 erreicht - ein Spitzenwert in Europa, mit dem die Bevölkerungszahl erhalten bleibt. Und in Frankreich sind deutlich mehr Mütter mit zwei Kindern im Beruf als in Deutschland, werden noch mehr Kinder nichtehelich geboren – dort ist es fast schon jedes zweite Kind, in Deutschland ist es etwa jedes vierte.

Wo Frauen keine Angst haben müssen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren und in Abhängigkeit von ihrem Mann zu geraten, wo sie nicht fürchten müssen, in ein unerwünschtes Lebensmodell

zurückzufallen oder aus einer verunglückten Partnerschaft keinen Ausweg zu finden, wo sie sich darauf verlassen können, dass der Vater sich an der Familienarbeit beteiligt, wagen sie eher den Schritt zum eigenen Kind.

  1. Wo die Gesellschaft moderner ist, genau dort werden mehr Kinder geboren. Und nicht

in den Horten der Tradition.

Meine Frau muss nicht arbeiten, das war die Haltung der Männer in bürgerlichen Kreisen. Und der Staat mit seinem Ehegattensplitting trug dazu bei, dass es jahrzehntelang dabei blieb.

In den frühen sechziger Jahren begann das Modell von der Alleinverdiener-Ehe zu bröckeln. Dann kam die Zeit, als die Pille dafür sorgte, dass die Frauen umsetzen konnten, was sie schon lan-ge wollten: nämlich die Gleichung Frau gleich Mutter zu sprengen. Die 68er Bewegung blieb an-fangs im Privatleben noch sehr bürgerlich, aber verabschiedete sich dann von der klassischen Fa-milie und brach in Wohngemeinschaften auf. Nicht nur, um sich der väterlichen Gewalt zu Hause zu entziehen, sondern auch, weil die Lebenslügen jener bürgerlichen Familien ans Licht gezogen wurden – Mutter war eben häufig doch nicht so glücklich im Dienst der Familie. Vater war eben häufig doch nicht so fürsorglich und treu.

Das war auch im Jahr 1900 nicht anders. Aber jetzt wurde es nicht mehr hilflos und re­signiert zur Kenntnis genommen. Jetzt wurde immer häufiger die Scheidung eingereicht: 1965 gab es noch siebenmal so viele Eheschließungen wie Scheidungen, 1985 waren es fast dreimal so viele, 2005 wurden nur noch knapp doppelt so viele Hochzeiten wie Scheidungen registriert.

Kein Abschied von der Familie ist entstanden, aber eine Individualisierung, die das Leben freier, aber eben auch anstrengender macht. Eine komplizierte Lage, der sich die modernen Men-schen gegenübersehen: Sie müssen selbst wissen, ob sie zusammenziehen oder nicht, ob Hochzeit oder nicht, Scheidung oder nicht, ob Kinder, wann und wie viele, mit wem und warum. Ob beide arbeiten, wie viel sie arbeiten und wohin mit der Oma, wenn sie dement ist. Ein Alltag, der über-fordern kann. Auch daran zerbrechen viele Ehen.

Früher war die Fürsorge der Männer im Wesentlichen ökonomisch geprägt, sie brachten genügend Geld nach Hause und zeigten Frau und Kindern auf diese Weise, was sie ihnen wert waren. Nun sind die Männer in der Rolle, ihre Fürsorge für Frau und Kinder neu definieren zu müssen.

Seit Mitte der sechziger Jahre verschwanden in der Schwerindustrie, im Bergbau, bei den Stahlkochern viele Jobs, später dann auch in anderen traditionellen Branchen. Die Familien konnten sich nicht länger in der Sicherheit wiegen, dass der Mann seine Arbeit ein Leben lang behält, dass sein Lohn auf Dauer reicht, um alle zu ernähren. Also brauchte man auch die Arbeitskraft der Frau-en – vor allem im Dienstleitungsbereich.

Es kam die Bildungsoffensive der sechziger Jahre, das Fundament für den Wandel von der Industrie- zur Dienstleislungsgesellschaft, die vor allem jungen Frauen neue Lebensperspektiven gab. Und diese Perspektiven wollen sie jetzt nicht mehr verlieren. In einer Bertelsmann-Studie ist es nachzulesen: Jede zweite Frau in einem Paarhaushalt mit Kindern unter zwölf Jahren geht nicht ar-beiten. Aber nur sechs Prozent sagen: Ich habe es so gewollt.

  1. Nicht Ideologie und Familienpropaganda werden die Familie retten und für Kindersegen sorgen und auch nicht Milliarden vom Staat. Notwendig ist es, auf den gesellschaftlichen Wandel zu reagieren und eine Umwelt zu schaffen, in der ein Kind nicht als Problem empfunden wird, das es zu bewältigen gilt, sondern als Glück. Deutschland muss sich Vorbilder suchen. Deutschland hinkt vielen seiner Nachbarstaaten weit hinterher.

Eine Idee aus Niederlanden gibt der Lebensplanung mehr Freiheit. Bislang ist der Lebens-zyklus dreiteilig organisiert: In der Jugend wird gelernt, darin wird gearbeitet, und im Alter erholt man sich. So staut sich in der Mitte des Lebens alles: die Karriere, das Familienleben und womög­lich auch Fürsorge für die eigenen Eltern. Rushhour des Lebens nennt man diese überfordernden Jahre zwischen dreißig und Mitte vierzig.

Auch hier hat die Realität längst den Entwurf überholt, an dem noch immer festgehalten wird. Von den nach 1970 Geborenen werden nicht wenige Frauen an die hundert Jahre alt werden. Und sie werden mit sechzig weitaus leistungsfähiger sein, als ihre Altersgenossinnen ein paar

Jahrzehnte zuvor. Warum also mit Mitte dreißig völlig erschöpft zwischen Konferenzen hin und her eilen oder sich gegen das eine oder andere entscheiden?

„Lebenslaufregelung", so heißt ein Modell aus Holland, ein Versuch, dem einheitlichen Lebensmuster zu entkommen: Mitten im Leben erlaubt man sich Auszeiten, kümmert sich um die Erziehung seiner Kinder, die Pflege der Eltern oder unternimmt eine Reise um die Welt. Finanziert wird diese Auszeit durch Ansparen von Teilen des Gehalts.

Diese Regelung ist für Frauen und Männer gedacht und kommt in den Niederlanden gut an. Das Kabinett erwartet, dass im Jahr 2009 etwa drei Millionen Holländer die Lebenslaufregelung nutzen werden.

In Ländern wie Schweden oder Dänemark trägt das Elterngeld zu den hohen Geburtenziffern bei. In Island nehmen fast 90 Prozent der Väter ihre Väterzeit. Island, Dänemark, können das Vor-bilder für Deutschland sein?

VI. Das Strittige an Elterngeld und Krippenförderung ist der gesellschaftliche Wertewandel. Seit Beginn der Bundesrepublik wird mit diesem Gesetz zum ersten Mal ein verändertes Frauen- und Familienbild unterstützt. Belohnt wird nicht mehr die Mutter, die sich möglichst lange zu Hause um ihre Kinder kümmert – belohnt wird die Frau, die vor der Familiengründung berufstätig war und gut verdient hat. Und es wird ihr nahegelegt, nach einem Jahr wieder in den Beruf zurück­zukehren, auch weil die Wirtschaft darauf Wert legt, denn das Land wird es sich immer weniger leisten können, dass eine gut ausgebildete weibliche Arbeitskraft bei der Hausaufgabenbetreuung der eigenen Kinder versumpft.

Geld zeugt keine Babys, aber es kann das Denken verändern. Und wenn Väter sich mehr beteiligen, kann auch das eine Ermutigung sein zum nächsten Kind. Das Elterngeld belohnt etwas mehr Gleichberechtigung; es ist eher ein gesellschaftspolitisches Signal als eine wirkliche Verände-rung. Aber möglich ist es doch, dass Väter, die sich auf die Partnermonate einlassen, Geschmack an einer neuen Vaterrolle finden.

Manche sind schon dabei. Die Einstellungen haben sich sehr verändert in den vergangenen Jahren: Nur noch 10 Prozent der Deutschen wünschen sich die Hausfrauenehe – bei den Männern sind es 13, bei den Frauen 8 Prozent.

Es gibt sie ja durchaus, die „neuen Väter", die ihr Leben gern um die Familie willen anders organisieren würden. Die mehr sein wollen als ein Ernährer, der morgens einen Abschiedskuss auf Kinderbäckchen gibt und abends vielleicht gerade noch rechtzeitig heimkommt, um die Gutenacht­geschichte zu erzählen. In Deutschland ist ein Potential von 20 Prozent dieser neuen Väter: Sie wür­den gern, trauen sich aber häufig nicht.

Trauen sich nicht, in Teilzeit zu gehen oder Elternzeit zu nehmen, weil die Firma in Schwie­rigkeiten käme, weil das Geld nicht reichen könnte oder weil der Chef und die Kollegen mit Ver­achtung drohen – Väterzeit ist in Deutschland ein Statement, keine Selbstverständlichkeit.

Geld allein wird nicht reichen. Nachwuchs kann man nicht kaufen. Familien brauchen Zeit, brauchen Arbeitsplätze und Kinderbetreuung, brauchen auch Optimismus, ohne den geht es nicht.

Dass Familie Glück bedeutet, davon sind noch immer die meisten überzeugt, auch die Jun­gen. Gut drei Viertel der Deutschen finden, dass eine gute Familienbindung sehr wichtig ist. das sind fast 10 Prozentpunkte mehr als ein Jahrzehnt zuvor, bei den Jugendlichen sogar 15 Prozent­punkte mehr.

Viele von ihnen wünschen sich Kinder; allerdings längst nicht alle, die an die Familie als Ort der Geborgenheit glauben. Familie mit oder ohne Kinder, Familie mit zwei Vätern oder angeheira-teten Geschwistern. Familie ohne Trauschein – es gibt viele Wege, ein altes Ideal auch in Zukunft zu leben.

(Nach: Anke Dürr, Barbara Supp. Claudia Voigt. Der Familiekrach. Der Spiegel. 9/2007. S. 52 – 72)

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