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Jugendstrafe - angemessen und zweckmäßig? Protokoll der Angst

Ort der Handlung: ein Stadtteil am Rande Ham­burgs. Beteiligte: ein Schüler aus gutem Haus, zwei Halbwüchsige vom sozialen Rand. Spätsommer des Jahres 2002. Bastian, ein 16- jäh­riger Handelsschüler, 1,80 Meter groß, blond, noch nicht sehr lebenserfahren, trifft sei­nen früheren Mitschüler Malik wieder, eben­falls 16. Mit dem hat er sich früher, auf der Hauptschule, gut verstan-den.

Auf dem Sportplatz einer nahe gelegenen Schu­le spielen die beiden in den nächsten Tagen mit Gleichaltrigen Fußball und Basketball, tau­schen CDs, fahren anschließend auch mal in die In-nen­stadt.

Zum dritten oder vierten Treffen bringt Malik einen Kumpel mit. Der ist fast zwei Jahre älter und ein richtiger Muskelmann: untersetzt, mit breiten Schultern und kräftigen Oberarmen. „Ich bin Jerome", stellt er sich vor, reicht Bastian freundlich die Hand, klopft ihm auf die Schulter. Nach dem Sport, die Jungs sitzen im Gras, fragt der freundliche Jerome beiläufig: „Sag mal, Bastian, hast du zufällig Geld dabei?" „Leider nein", lügt Bastian, guckt zum Schein in sein Portemonnaie. „Gib doch mal rüber", verlangt Jerome, packt sich die Geldbörse.

Den 50-Euro-Schein, dessen Existenz Bastian verheimlichen wollte, steckt der Ältere ein­fach ein. „Du hast hoffentlich nichts dagegen", sagt er dazu leise. Malik, der alles beobachtet, der die ganze Zeit geschwiegen hat, beruhigt: „Du kriegst das bestimmt wieder, Bastian."

„Abziehen" nennen Jugendliche derartige Übergriffe. Das klingt so harmlos, als ginge es um eine Art Sport - dabei handelt es sich juris­tisch betrachtet um eine erhebliche Straftat.

In vielen Großstädten gehört „Abziehen" längst zum polizeilichen Alltag: Kinder, Jugendli­che und Heranwachsende, die sich wegen ihrer Her­kunft oder ihrer sozialen Situation benachteiligt fühlen, nehmen ihren vermeintlich reicheren und privilegierteren Altersgenossen teure Mar­kenkla­motten, Handys, Unterhaltungselektro­nik und Bargeld ab. Jedes Jahr registriert die Polizei Tausen-de solcher Delikte.

Am Tag nach dem Verlust seiner Barschaft bit­tet Bastian zu Hause um Fahrgeld für den Bus. „Du hast doch gerade Taschengeld bekom­men", schimpft die Mutter. „Wo sind denn die 50 Euro?" „Ausgegeben." „Wofür?" Keine Antwort.

Die Mutter fragt nicht weiter, will den Sohn nicht bedrängen, wundert sich nur. Sonst ist der Junge doch so offen, warum diesmal nicht? Schließlich ist er 16, beruhigt sie sich, da hat man eben Geheimnisse. Außerdem: Bastian ist neu auf der Handelsschule, hat Bammel vor den dortigen An­forderungen, muss sich erst einge­wöhnen. Das fällt dem sensiblen Schüler schwer genug. [...]

Richtig wohl fühlt sich Bastian nur auf dem Fußballplatz. Da weiß er seinen Körper, dessen Arme und Beine sonst so schlaksig an ihm her­umbaumeln, richtig einzusetzen, da wird er von allen respektiert. Linksfüßer ist er, Leistungs­klasse spielt er, in der B-Jugend, darauf ist er stolz.

Sechs Wochen später. Auf dem Schulsportplatz trifft Bastian erneut seinen früheren Mit­schüler Malik und dessen Kumpel Jerome, zufällig. Der Handelsschüler traut sich nicht, sein Geld zurückzufordern. Er versucht sich schnell zu verdrücken.

Jerome versperrt ihm den Weg. „Einen geilen Discman hast du da", sagt er, „lass doch mal hö­ren." Und nimmt Bastian den tragbaren Mini-Disc-Player ab. „Den leihst du mir doch sicher." Bastian protestiert, will sein Eigentum nicht hergeben. Malik, der erneut geschwiegen hat, mischt sich ein. „Du kriegst ihn morgen wie­der", verspricht er. „Mein Wort drauf." Am nächsten Tag klingt das ganz anders. „Jerome hat das Ding", bedauert Malik übers Handy, „ich hab damit nichts zu tun."

Bastian meidet fortan den Schulsportplatz, auf dem er so oft seine Nachmittage verbracht hat, beschränkt sich auf das Training in seinem Ver­ein. Wenn er allein die Wohnung verlässt, nimmt er nie mehr Geld mit, als er für eine Fahrkarte braucht.

November 2002. Jerome steigt in den Bus ein, in dem Bastian von der Schule nach Hause fährt. Bastian guckt weg, aber Jerome entdeckt ihn, setzt sich neben ihn, legt ihm den rechten Arm

um die Schulter: „Wie schön, dich zu sehen."

Aus der Umarmung wird ein Schwitzkasten, Bastian kriegt kaum noch Luft. „Du kannst mir einen großen Gefallen tun", flüstert Jerome. „Ich brauch Anfangskapital für mein Geschäft." „Was für ein Geschäft?" „Meine Sache."

1500 Euro soll Bastian rausrücken, und zwar schnell. „Aber ich krieg nur 50 Euro Taschen­geld im Monat", entgegnet Bastian, versucht, sich aus der Umklammerung zu befreien.

Sein Peiniger lässt ihn los. „Lass dir was einfal­len", droht er. „Deine Eltern haben doch ge­nug Kohle" – Jerome ist informiert. Er hat, zusam­men mit Malik, das Grundstück von Bastians El­tern ausgespäht. Hat das großzügige Haus der Eltern gesehen, die beiden Mercedes auf dem Park­platz davor. Weiß, dass Bastians Vater ein kleines Unternehmen führt. Stellt Bastian ein Ultimatum.

„Ich gebe dir sechs Wochen", erklärt er, „dann will ich das Geld sehen." Bis dahin werde er an­rufen, jeden Tag, um zu kontrollieren, ob Basti­an auch spure. „Verstanden?"

Die Menschen in Bastians Umgebung spüren die Veränderung des Schülers. Sie können sie sich jedoch nicht erklären.

Die Mutter versteht nicht, warum ihr Sohn sein geliebtes Handy nicht mehr benutzt, das Ge­rät, dessen Tonsignal sonst ständig nervte, ausge­schaltet zu Haus lässt. Warum Bastian nicht mehr an den gemeinsamen Mahlzeiten teil­nimmt, kaum noch etwas isst, nicht mehr wie sonst Freunde besucht, sich schon nachmittags in sein Zimmer einschließt, die Verstärker sei­ner Musikanlage auf-dreht, sich hinter dem Röh­ren von HipHop und Rap verbarrikadiert.

Die Lehrer in der Handelsschule sind ratlos an­gesichts der verheerenden Leistungen des neu­en Schülers, beklagen dessen Mangel an Kon­zentration. „Nicht geeignet für unsere Schule", lautet ihr Urteil.

Der Fußballtrainer fragt Bastian, warum er so miserabel spiele, was zum Teufel mit ihm los sei. „Nichts, gar nichts", wehrt der Linksaußen ab. „Wirklich nichts."

Die Angst, die ihn einfach nicht mehr loslässt, nicht in der Schule, nicht auf dem Fußball-platz, nicht zu Hause, diese Angst lässt ihn auch schweigen.

Er fürchtet, Jerome könnte sich an seinen Eltern rächen, an seiner Schwester. Und er hofft, die Bedrohung werde irgendwann von selbst vor­übergehen wie ein böser Traum. Aus Angst, Jero­me und Malik wieder zu treffen, traut sich Bastian kaum noch aus dem Haus. [...]

Dezember 2002. Jerome lauert Bastian auf, Malik ist auch dabei: „Du bist ja nie zu errei­chen", beschwert sich Jerome. „Denkst du, du könntest mich verarschen?"

Der fast 18-Jährige zerrt Bastian in eine dunkle Ecke, hinter eine Mauer. Dann schlägt er zu. Einmal, zweimal, dreimal, viermal. Immer ins Gesicht. „Jetzt reicht's", ruft Malik. „Hör auf!" Aber Bastians Peiniger reicht es noch nicht. „Auf die Knie", schreit er Bastian an, der sich zitternd nie­derkniet. Und, auf Befehl Jeromes, mehrfach den Satz wiederholen muss: „Ent­schuldige, dass ich mich nicht gemeldet habe." Es gehe für Bastian um Leben und Tod, droht Jerome. Ob Bastian das überhaupt klar sei? „Wenn du nicht zahlst, gehen wir das nächste Mal in den Wald. Dort liegen noch mehr ver­buddelt, die nicht zahlen wollen."

Danach ist Jerome plötzlich wieder richtig freundlich. Einen Haschisch-Handel wolle er mit Bastians Geld aufziehen, erzählt er freimü­tig. Wenn der etwas abwerfe, woran kein Zwei­fel be-stehe, bekomme auch Bastian seinen An­teil. Versprochen.

Zuvor aber müsse das Geld her. Frist: eine Woche. [...]

Noch fünf Tage. Bastian, verzweifelt, verletzt und gedemütigt, weiß nicht, was er tun soll. Zur Polizei? Aber werden ihm die Beamten glau­ben? Endlich, endlich die Eltern informieren? Aber werden die ihn nicht fragen, warum erst jetzt? Sich selbst das Geld besorgen? Aber wie? Klauen, einbrechen, rauben? Einfach abhauen? Noch drei Tage. Bastians Mutter, in Eile, lässt morgens den Tresor offen stehen. Bastian wühlt hektisch nach Bargeld, findet stattdessen Schecks, blanko unter-schrieben. Nimmt einen weg.

Noch zwei Tage. Der Schüler liegt die ganze Nacht wach. Überlegt: Soll er, soll er nicht? Ei­ne Geschichte über Jerome kommt ihm in den Sinn. Von dem heißt es, er habe kürzlich bei einer Schlägerei seinem Gegner mit einem Faustschlag den Kiefer zertrümmert.

Noch ein Tag. Bastian trägt auf dem Scheck den Betrag von 1500 Euro ein, traut sich zur Bank. Der Kassierer schaut ihn zwar misstrauisch an, verlangt den Personalausweis. Bastian be­kommt jedoch das Geld, ruft sofort Jerome an. Am Treffpunkt, einer Bushaltestelle, zieht Jero­me sein Opfer beiseite: „Hier sind zu viele Augen." Hinter einer Hecke zählt er die Schei­ne, auch Malik ist wieder mitgekommen. Jero­me strahlt, haut Bastian auf die Schulter: „Auf dich kann man sich ja doch verlassen." – und gibt dem 16-Jährigen den vor Monaten gestoh­lenen Discman zurück, zur „Belohnung".

Abends setzt sich Bastian erstmals seit vielen Monaten wieder ins Wohnzimmer. Denkt nicht an den nächsten Tag. Spürt nur, dass eine enor­me Last von ihm abgefallen ist. Guckt sich mit Eltern einen Film an, lacht sogar. Isst mit Appe­tit. „Was ist passiert?", fragt der Vater irritiert.

Am Morgen danach entdeckt die Mutter die Abhebung, forscht bei der Bank nach, infor­miert den Vater. Der eigene Sohn ein Dieb. Aber wieso? [...]

Auch Bastian erzählt bei der Polizei zunächst nur die halbe Wahrheit. Er hat noch immer Angst, behauptet deshalb, er würde seine Peini­ger nicht kennen. Bricht schließlich beim zwei­ten Verhör zusammen, erzählt alles.

Als er den Namen Jerome nennt, holt ein Beam­ter eine Fotomappe. „Ist er das?" „Das ist er." „Den kennen wir schon." Jerome wird morgens aus dem Bett geholt. Ja, er habe Bastian ge­schlagen, räumt er ein. Und Geld bekommen habe er auch. Aber nur, weil ihm Bas­tian welches schulde. Er sei im Recht gewesen. Der Haftrichter lässt Jerome trotz dringenden Tatverdachts wie-der frei. Grund: Er hat einen festen Wohnsitz, und, was noch schwerer wiegt, einen Arbeitsplatz. Der soll nicht gefährdet werden. Bedingung: Jerome und auch Malik dürften keinerlei Kontakt zu Bastian oder des­sen Eltern aufnehmen. [...]

Ende März 2003. Die Hamburger Staatsan­waltschaft klagt Jerome und Malik wegen

Dieb­stahls und räuberischer Erpressung an. [...]

Bastian fürchtet sich vor dem Prozess. Er weiß, dass er als Zeuge auftreten muss, hat Angst, Jerome und Malik vor Gericht zu begegnen.

Maliks Mutter ruft bei Bastians Eltern an. Ob man sich nicht mal treffen, über alles reden könne? Schließlich stehe Maliks Zukunft auf dem Spiel. Und die wolle man ihrem Sohn doch sicher nicht verbauen wegen so eines Jungen­streichs. Bastians Mutter hat abgelehnt.

Das Geld, die 1500 Euro, ist weg. Jerome hat sie offenbar gleich ausgegeben.

(aus: Wirtschaft – Politik, 8. Schuljahr, 2006)

Aufgaben

  1. Haben Sie Verständnis für Bastians Verhalten? Begründen Sie Ihre Meinung.

  2. Nennen Sie Situationen, die Bastian bis zur Eröffnung des Prozesses erlebt hat.

  3. Beschreiben Sie das Umfeld von Malik und Jerome. Diskutieren Sie die Motive für ihre Hand-lungen.

  4. Welche Konsequenzen haben Malik und Jerome zu erwarten?

  5. Welche strafbaren Handlungen haben Malik und Jerome begangen: Verbrechen und Vergehen, Beihilfe, Körperverletzung, Bedrohung, Diebstahl, Unterschlagung, Raub, Erpressung, räube­rische Erpressung oder Begünstigung?

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