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remarque_erich_maria_die_nacht_von_lissabon.doc
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28.03.2016
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Ich hörte ihm zu mit der tiefen Ruhe, geredet zu sein.

„Sie sind ein mutiger Mann", sagte ich dann. „Ich bin mindestens zwanzig Pfund schwerer und fünfzehn Zentimeter größer als Sie. Aber sprechen Sie sich nur aus. Es erleichtert."

„Höhnen!" sagte er und wurde noch wütender. „Verhöhnen wollen Sie mich auch noch, was? Aber das ist vorbei! Für immer vorbei! Was habt ihr mit meinen Eltern gemacht? Was hat mein alter Vater euch getan? Und jetzt! Jetzt wollt ihr die Welt in Brand stecken!"

„Glauben Sie, daß es Krieg gibt?" fragte ich.

„Höhnen Sie nur weiter! Als ob Sie das nich! wüßten! Was sonst bleibt euch übrig mit eurem Tausendjährigen Reich und euren infamen Rüstungen? Ihr Berufsmörder und Verbrecher! Wenn ihr keinen Krieg macht, bricht euer Schwindel-Wohlstand zusam­men und ihr mit ihm!"

„Das glaube ich auch", sagte ich und fühlte die warme Sonne des späten Nachmittages auf meinem Gesicht wie eine Liebkosung. „Aber wie wird es, wenn Deutschland gewinnt?"

Der Mann mit dem feuchten Anzug starrte mich an und schluckte. „Wenn ihr gewinnt, dann gibt es keinen Gott mehr", sagte er dann mit Mühe.

„Das glaube ich auch." Ich stand auf.

„Rühren Sie mich nicht an!" zischte er. „Sie werden verhaftet! Ich ziehe die Notbremse! Ich zeige Sie an! Sie sollten sowieso angezeigt werden, Sie Spion! Ich habe gehört, was Sie geredet haben!"

Das fehlte noch, dachte ich. „Die Schweiz ist ein freies Land", sagte ich. „Man verhaftet da nicht gleich auf Grand einer Denunziation. Sie scheinen drüben gut gelernt zu haben."

Ich nahm meinen Koffer und suchte mir ein anderes Abteil. Ich wollte den hysterischen Mann nicht aufklären; aber ich wollte ihm auch nicht gegenübersitzen. Haß ist eine Säure, die die Seele auffrißt, ganz gleich, ob man selbst haßt oder gehaßt wird. Ich hatte das gelernt während meiner Wanderschaft.

So kam ich nach Zürich.

9

Die Musik setzte einen Augenblick aus. Man hörte aufgeregte Worte von der Tanzfläche. Gleich darauf setzte das Orchester stärker wieder ein, und eine Frau in einem kanariengelben Kleide und mit einer Kette falscher Diamanten im Haar begann zu singen. Das Unvermeidliche war geschehen: ein Mitglied der deut­schen Partei war beim Tanzen mit einem der englischen zusammengeprallt. Jeder beschuldigte den anderen der Absicht. Der Manager und zwei Kellner spielten Völkerbund und begütigten, ohne gehört zu werden. Das Orchester war klüger: es wechselte den Rhythmus. Statt eines Foxtrotts spielte es einen Tango, und die Diplomaten mußten entweder stehenbleiben und lächerlich werden oder weitertanzen. Der deutsche Kontrahent aber schien keinen Tango zu kennen, während der englische den Rhythmus, auf der Stelle tanzend, andeutete. Da beide gleich darauf von den anderen Paaren angestoßen wurden, verlor sich ihr Argument. Mit wütenden Blicken gingen sie zu ihren Tischen.

„Duellieren," sagte Schwarz verächtlich. „Warum duellieren sich die Helden nicht?"

„Sie kamen nach Zürich", erwiderte ich.

Er lächelte schwach. „Wollen wir hier weggehen?"

„Wohin?"

„Es gibt sicher noch einfache Kneipen, die die ganze Nacht offen sind. Dies ist hier ein Grab, in dem getanzt und Krieg gespielt wird."

Er zahlte und fragte den Kellner nach einem anderen Lokal. Der Mann schrieb eine Adresse auf ein Stück Papier, das er von seinem Block riß, und erklärte uns die Richtung, in der wir gehen müßten.

Wir traten vor der Tür in eine wunderbare Nacht. Die Sterne waren noch da, aber schon lagen Meer und Morgen am Horizont in einer ersten, blauen Umarmung; der Himmel war höher und der Geruch nach Salz und Blüten stärker geworden als früher. Es würde ein klarer Tag werden. Lissabon hat am Tage etwas naiv Theatralisches, das bezaubert und gefangennimmt, aber nachts ist es das Märchen einer Stadt, die in Terrassen mit allen Lichtern zum Meere herabsteigt wie eine festlich geschmückte Frau, die sich niederbeugt zu ihrem dunklen Geliebten.

Wir standen einige Zeit und schwiegen. „So haben wir uns einmal das Leben gedacht, wie?" sagte Schwarz schließlich trübe. „Tausend Lichter und Straßen, die in die Unendlichkeit führen..."

Ich antwortete nicht. Für mich war das Leben das Schiff, das unten im Tejo lag, und es fuhr nicht in die Unendlichkeit — es fuhr nach Amerika. Ich hatte genug von Abenteuern; die Zeit hatte uns damit beworfen wie mit faulen Eiern. Das abenteuerlichste Abenteuer war ein gültiger Paß, ein Visum und eine Fahrkarte. Dem Wanderer wider Willen war das Alltägliche längst zur Phantasmagorie und das Abenteuer zur Plage gewor­den.

„Zürich erschien mir damals so wie Ihnen diese Stadt heute nacht", sagte Schwarz. „Dort begann das, was ich glaubte verloren zu haben. Sie wissen, daß Zeit ein sehr dünner Aufguß des Todes ist, der uns langsam zugefügt wird wie ein harmloses Gift. Anfangs belebt es und läßt uns sogar glauben, wir seien fast unsterblich — aber wenn es Tropfen um Tropfen, Tag für Tag um einen Tropfen und einen Tag stärker wird, verändert es sich in eine Säure, die unser Blut trübe macht und zerstört. Selbst wenn wir versuchen wollten, mit den Jahren, die wir noch haben, die Jugend zurückzukaufen, so könnten wir es nicht, die Säure der Zeit hat uns verändert, und die chemische Verbin­dung ist nicht mehr dieselbe, es müßte denn ein Wunder geschehen. Dieses Wunder geschah."

Er blieb stehen und starrte auf die schimmernde Stadt. „Ich möchte, daß diese Nacht in meiner Erin­nerung die glücklichste meines Lebens wird", flüsterte er. „Sie ist die schrecklichste. Glauben Sie nicht, daß die Erinnerung das vollbringen kann? Sie muß es doch können! Das Wunder, wenn man es erlebt, ist nie vollkommen, erst die Erinnerung macht es dazu — und wenn das Glück tot ist, kann es sich doch nicht mehr ändern und zur Enttäuschung werden. Es bleibt vollkommen. Wenn ich es jetzt noch einmal beschwören kann: muß es dann nicht so bleiben, wie ich es sehe? Muß es nicht dasein, solange auch ich da bin?"

Er wirkte fast wie ein Mondsüchtiger, während er auf der Treppe vor dem übermächtig andrängenden Morgen stand, eine armselige, vergessene Gestalt aus der Nacht; und er tat mir plötzlich entsetzlich leid. „Es ist wahr", sagte ich behutsam. „Wie können wir wirklich wissen, ob wir glücklich sind und in welchem Grade, solange wir nicht wissen, was bleibt und wie es bleibt?"

„Indem wir jeden Augenblick wissen, daß wir es nicht halten können, und es auch nicht versuchen", flüsterte Schwarz. „Wenn wir es nicht festhalten und packen wollen mit unseren Händen und unseren groben Griffen, bleibt es dann nicht ohne Erschrecken hinter unsern Augen? Und lebt es dort nicht weiter, solange die Augen leben?"

Er blickte immer noch auf die Stadt hinab, in der ein Tannensarg stand und ein Schiff vor Anker lag. Sein Gesicht schien einen Augenblick in seine Teile zu zerfallen, so sehr war es entstellt von einem Ausdruck toten Schmerzes; dann begann es wieder sich zu bewegen, der Mund war nicht mehr eine schwarze Höhle, und die Augen waren keine Kieselsteine mehr.

Wir gingen weiter zum Hafen hinunter. „Herr", sagte er nach einiger Zeit. „Wer sind wir? Wer sind Sie, wer bin ich, wer sind die anderen, und wer sind die, die nicht mehr da sind? Was ist wirklich, das Spiegelbild oder der, der davorsteht? Der Lebende oder die Erinne­rung, das Bild ohne Schmerz? Sind wir verschmolzen jetzt, die Tote und ich, ist sie vielleicht jetzt erst ganz mein, in dieser trostlosen Alchemie, in der sie nun nur noch antwortet, wenn ich will und wie ich will, einge­gangen und nur noch da in dem bißchen Phospho­reszieren hier unter meinem Schädel? Oder habe ich sie nicht nur verloren, sondern verliere sie jetzt noch einmal, durch die langsam erlöschende Erinnerung jede Sekunde ein wenig mehr? Ich muß sie halten, Herr, verstehen Sie das nicht?" Er schlug sich vor die Stirn.

Wir kamen zu einer Straße, die in langen Trep­penstufen den Hügel herunterführte. Irgendeine Festlich­keit mußte hier am Tage vorher gefeiert worden sein. Girlanden, die schon welk wurden und nach Friedhof rochen, hingen über eisernen Stangen zwischen den Häusern, und Schnüre mit elektrischen Birnen waren gezogen, die von tulpenartigen, großen Lampen unterbrochen wurden. Hoch darüber, in Abständen von etwa zwanzig Metern, schwebten fünfeckige Sterne aus kleinen elektrischen Birnen. Wahrscheinlich war das alles für eine Prozession oder eines der vielen religiösen Feste errichtet worden. Jetzt stand es kahl und verbra­ucht im beginnenden Morgen, und nur an einer Stelle, unten, schien etwas mit den Anschlüssen nicht geklappt zu haben — dort brannte noch ein Stern in dem son­derbar scharfen, bleichen Licht, das Lampen am frühen Abend und am Morgen haben.

„Hier ist der Platz", sagte Schwarz und öffnete die Tür zu einer Kneipe, in der noch Licht war. Ein kräftiger sonnen gebräunter Mann kam uns entgegen. Er zeigte auf einen Tisch. In dem niedrigen Raum standen ein paar Fässer, und an einem der paar Tische saßen ein Mann und eine Frau. Der Besitzer hatte nichts als Wein und kalten gebratenen Fisch.

„Kennen Sie Zürich?" fragte Schwarz mich. „Ja. Ich bin in der Schweiz viermal von der Polizei gefaßt worden. Die Gefängnisse sind gut da. Viel besser als in Frankreich. Besonders im Winter. Leider wird man nur für höchstens vierzehn Tage eingesperrt, wenn man Ruhe haben will. Dann wird man abgeschoben, und das Grenzballett geht wieder los."

„Mein Entschluß, offen über die Grenze zu gehen, hatte etwas in mir befreit", sagte Schwarz. „Ich fürchtete mich plötzlich nicht mehr. Ein Polizist auf der Straße ließ mein Herz nicht mehr stocken; er gab mir noch einen Schock, aber einen milden, gerade stark genug, daß mir im nächsten Moment meine Freiheit um so mehr bewußt wurde."

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