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und sagte kein einziges.doc
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09.11.2019
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Ich wandte mich um und sah Clemens an, der mit einem Atlas auf seinem Sofa hockte. Er sah mich ruhig an und sagte:

„Beisem hat es mir erzählt, er sitzt neben mir." Ich wusste davon nichts.

„Es gibt Krankheiten", sagte ich, „derentwegen man nicht im Bett zu liegen braucht."

Die Kinder sagten nichts. Sie zogen mit ihren Schulranzen ab und ich ging auf den Flur und blickte ihnen nach, wie sie langsam in die graue Straße hineingingen, die Schultern ein wenig gebeugt von der Last der Bücher, und mich überkam Trauer, weil ich mich selbst sah, in eine Straße hineingehen, mit dem Schulranzen auf dem Rücken, die Schultern ein wenig gebeugt von der Last der Bücher, ich sah die Kinder nicht mehr, sah nur mich selbst, sah mich von oben: ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen, nachsinnend über ein Strickmuster oder das Todesjahr Karls des Großen.

Als ich zurückkam, stand Frau Franke vor dem Spiegel der Garderobe und zupfte den violetten Schleier an ihrem Hut zurecht. Es läutete zur Achtuhrmesse. Sie grüßte, kam auf mich zu, stand lächelnd vor mir im dunkeln Flur, stellte mich, bevor ich in unser Zimmer zurückgehen konnte.

„Man hört", sagte sie freundlich, „dass Ihr Mann Sie endgültig verlassen hat. Hört man recht?" „Man hört recht", sagte ich leise, „er hat mich verlassen." Und ich war erstaunt, dass ich keinen Hass mehr spürte.

„Und trinkt, nicht wahr?" Sie knüpfte den Schleier an ihrem hübschen Hals fest.

"Und trinkt", sagte ich leise.

Es war fast vollkommen still. Ich hörte drinnen das sanfte Geplapper meines Kleinen, der mit seinen Bauklötzen sprach, hörte die Stimme eines Ansagers, der fünfmal, sechsmal, siebenmal -— ich konnte es in der Stille hören — sagte: „Sieben Uhr neununddreißig — vielleicht müssen Sie Ihre reizende Gattin verlassen, vielleicht aber auch können Sie noch Bulwers4 heiteren Morgenmarsch hören ich hörte die Morgenmusik, empfand diese amtliche Heiterkeit wie Geißelschläge. Frau Franke stand vor mir, sie rührte sich nicht, sagte nichts, aber ich sah den tödlichen Glanz ihrer Augen, sehnte mich nach der heiseren Stimme des Negers, die ich einmal gehört habe, ein einziges Mal, und auf die ich vergebens warte seitdem, die heisere Stimme, die sang:

Und er sagte kein einziges Wort.

Und ich sagte „Guten Morgen" zu Frau Franke, schob sie beiseite und ging in mein Zimmer. Sie sagte nichts. Ich nahm den Kleinen auf den Arm, drückte ihn an mich und hörte, wie Frau Franke zur Messe ging.

XIII•

Der Omnibus hält immer an der gleichen Stelle. Die Ausbuchtung der Straße, in der er halten muss, ist eng, und jedes Mal, wenn er hält, gibt es einen Ruck, von dem ich erwache. Ich stehe auf, steige aus und wenn ich die Straße überquert habe, stehe ich vor dem Schaufenster eines Eisenwarenladens und blicke auf das Schild: „Leitern aller Größen pro Stufe DM 3,20." Es ist sinnlos, dass ich dann auf die Uhr am Giebel des Hauses sehe, um mich zu vergewissern, wie spät es ist: Es ist genau vier Minuten vor acht — und wenn es auf der Uhr acht ist — oder schon nach acht, dann weiß ich, dass die Uhr falsch geht: Der Omnibus ist pünktlicher als die Uhr.

Jeden Morgen stehe ich einige Augenblicke vor dem Schild: „Leitern aller Größen pro Stufe DM 3,20", neben diesem Schild ist eine dreistufige Leiter aufgestellt und neben der Leiter seit Sommerbeginn ein Liegestuhl, in dem eine große blonde Frau aus Pappe oder Wachs ruht — ich kenne das Zeug nicht, aus dem sie Schaufensterpuppen machen — die Frau trägt eine Sonnenbrille und liest einen Roman, der „Ferien vom Ich"1 heißt. Den Namen des Verfassers kann ich nicht lesen, weil er verdeckt wird vom Bart eines Gartenzwerges, der schräg über einem Aquarium liegt. Zwischen Kaffeemühlen, Wringmaschinen und der Leiter liegt die große blonde Puppe und liest schon seit drei Monaten den Roman „Ferien vom Ich".

Heute aber, als ich ausstieg, sah ich, dass das Schild „Leitern aller Größen pro Stufe DM 3,20" weg war, und die Frau, die den ganzen Sommer über im Liegestuhl dort gelegen, den Roman „Ferien vom Ich" gelesen hatte, stand jetzt in einem blauen Trainingsanzug, mit wehendem Schal auf Skiern, und neben ihr ein Schild: „Denken Sie frühzeitig an den Wintersport."

Ich dachte nicht an den Wintersport, ging in die Melchiorstraße, kaufte mir fünf Zigaretten an der Bude links neben der Kanzlei und ging am Pförtner vorbei in den Flur. Der Pförtner grüßte mich, er ist einer meiner Freunde in diesem Haus, kommt manchmal zu mir nach oben, raucht seine Pfeife und erzählt mir den neuesten Klatsch. Ich nickte dem Pförtner zu und grüßte ein paar Kleriker, die schnell mit ihren Aktentaschen die Treppe hinaufstiegen. Oben öffnete ich die Tür zur Zentrale, hing Mantel und Mütze auf, warf meine Zigaretten auf den Tisch, das lose Geld daneben, stöpselte den Kontakt ein und setzte mich.

Ruhe überkommt mich, wenn ich an meinem Arbeitsplatz sitze: Ich habe das sanfte Brummen im Ohr, sage „Zentrale", wenn jemand im Hause zweimal gewählt hat, wenn das rötliche Licht aufleuchtet, und stelle die Verbindung her.

Ich zählte mein Geld, das auf dem Tisch lag, es war eine Mark zwanzig, rief den Pförtner an, sagte „Bogner, guten Morgen" — als er sich meldete — „ist die Zeitung schon da?"

„Noch nicht", sagte er, „ich bringe Sie Ihnen, wenn sie kommt."

„Was Besonderes los?"

„Nichts."

„Dann bis gleich."

„Bis gleich."

Um halb neun kam die Personalmeldung, die der Bürovorsteher Bresgen täglich an den Prälaten Zimmer gibt. Vor Zimmer zittern sie alle, selbst die im Hause beschäftigten Priester, die man aus der Seelsorge in die Verwaltung versetzt hat2. Er sagt nie bitte, sagt nie danke, und es überkommt mich ein leichter Schauder, wenn er wählt, ich mich melde. Jeden Morgen sagt er es um halb neun pünktlich: „Prälat Zimmer."

Ich hörte, was Bresgen meldete: „Krank: Weidlich, Sick, Kaplan Huchel, bisher unentschuldigt: Kaplan Soden."

„Was ist mit Soden?"

„Keine Ahnung, Herr Prälat."

Ich hörte einen Seufzer bei Zimmer, wie ich ihn oft höre, wenn Sodens Name fällt, dann war das erste Gespräch beendet.

Erst gegen neun geht die heftige alltägliche Telefonade los. Anrufe von draußen nach hier, von hier nach draußen, Ferngespräche, die ich anmelden muss, hin und wieder schalte ich mich ein, lausche den Gesprächen und stelle fest, dass der Wortschatz auch hier einhundertfünfzig Worte kaum übersteigt. Das am meisten gebrauchte Wort ist Vorsicht. Immer wieder taucht es auf, schlägt durch das allgemeine Gerede.

„Die Linkspresse hat die Rede von SE angegriffen. Vorsicht."

„Die Rechtspresse hat die Rede von SE totgeschwiegen. Vorsicht."

„Die christliche Presse hat die Rede von SE gelobt. Vorsicht."

„Soden fehlt unentschuldigt. Vorsicht."

„Bolz hat um elf eine Audienz. Vorsicht."

SE ist die Abkürzung für Seine Eminenz, den Bischof. Die Scheidungsrichter sprechen auch am Telefon Latein, wenn sie fachlich miteinander reden: Ich höre ihnen immer zu, obwohl ich kein Wort verstehe: Ihre Stimmen sind ernst, aber es ist seltsam, sie über lateinische Witze lachen zu hören. Merkwürdig, dass die beiden, Pfarrer Pütz und Prälat Serge, die einzigen im Hause sind, die mir Sympathien entgegenbringen. Um elf rief Zimmer den Geheimsekretär des Bischofs an: „Protest gegen die Geschmacklosigkeit der Drogisten — aber Vorsicht. Profanierung, wenn nicht Verhöhnung der Hieronymus-Prozession.3 Vorsicht."

Fünf Minuten später rief der Geheimsekretär des Bischofs zurück: „Eminenz wird den Protest auf privater Ebene lancieren.4 Ein Vetter Seiner Eminenz ist Vorsitzender des Drogistenverbandes. Also Vorsicht."

„Was hat die Audienz mit Bolz ergeben?"

„Noch nichts Genaues, aber weiterhin: Vorsicht." Prälat Zimmer verlangte kurz darauf den Prälaten Weiner:

„Sechs Versetzungen aus der Nachbardiözese."

„Wie sind sie?"

„Zwei sind glatt Vier, drei Drei-Minus, einer scheint gut. Huckmann. Patrizierfamilie.5"

„Kenne ich, ausgezeichnete Familie. Wie wars gestern?"

„Scheußlich, der Kampf geht weiter."

„Wie?"

„Geht weiter, der Kampf — es war wieder Essig am Salat".

„Und Sie hatten doch ..."

„Hatte ausdrücklich seit Monaten auf Zitronen bestanden. Vertrage Essig nicht. Offene Kampfansage."

„Wen vermuten Sie dahinter?"

„W.", sagte Zimmer, „sicher ist es W. Mir ist ganz elend."

„Scheußliche Sache, wir sprechen noch darüber."

„Ja, später."

So wäre ich bald eingeweiht worden in einen Kampf, der offenbar mit Essigtropfen geführt wird.

Gegen viertel nach elf rief mich Serge an.

"Bogner", sagte er, „haben Sie Lust, einmal in die Stadt zu gehen?"

„Ich kann nicht weg, Herr Prälat."

„Ich lasse Sie ablösen, für eine halbe Stunde. Nur zur Bank. Falls Sie Lust haben. Manchmal möchte man doch mal raus."

„Wer soll mich ablösen?"

„Fräulein Hanke. Mein Sekretär ist nicht da und die Hanke kann wegen des Hüftleidens nicht gehen. Haben Sie Lust?"

„Ja", sagte ich.

„Na, sehen Sie. Kommen Sie gleich, wenn die Hanke da ist."

Die Hanke kam gleich. Jedes Mal erschrecke ich ein wenig, wenn sie mit dem seltsamen Schwingen ihres Körpers mein Zimmer betritt. Sie löst mich immer ab, wenn ich weg muss: zum Zahnarzt gehe oder Besorgungen mache, die Serge mir aufträgt, weil er mir eine Abwechslung verschaffen will. Die Hanke ist groß, hager und dunkel, sie bekam das Leiden erst vor drei Jahren, als sie zwanzig war, und ich werde es nicht leid ihr Gesicht anzusehen: Es ist zart und von Sanftmut beherrscht. Sie brachte mir Blumen mit, violette Astern, stellte sie in den Topf am Fenster und gab mir dann erst die Hand.

„Gehen Sie", sagte sie, „was machen Ihre Kinder?"

„Gut", sagte ich, „es geht ihnen gut." Ich zog meinen Mantel an.

„Bogner", sagte sie lächelnd," jemand hat Sie betrunken gesehen. Damit Sie es wissen, falls Zimmer davon anfängt."

„Ich danke Ihnen", sagte ich.

„Sie sollten nicht trinken."

„Ich weiß."

„Und Ihrer Frau", fragte sie vorsichtig, „wie geht es Ihrer Frau?"

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