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In einem solchen Land

Ursula Wölfel:

Ein Junge war zwölf Jahre alt. Hier soll er Kit heißen. Das ist nicht sein richtiger Name. Es ist besser, wenn keiner seinen richtigen Namen kennt. Kit hatte Feindschaft mit einem anderen Jungen. Der soll hier Tapo heißen. Auch seinen richtigen Namen soll kei­ner kennen, es ist besser so. Immer, wenn Kit und Tapo mit den anderen Kindern spielten, gab es Streit. Immer wollte jeder von ihnen der Erste sein. Solche Feindschaft zwischen Jungen gibt es überall, des­halb braucht man kein Geheimnis aus ihren

Namen zu machen. Aber sie wohnen in einem Land, da durfte man nicht alles sagen, was man dachte, da durfte man nicht alles wissen, was man erfahren hatte. Denn niemand sollte die Wahrheit sagen über das, was schlecht war in diesem Land. Wer laut darüber redete, kam ins Gefängnis.

Die Menschen in diesem Land hatten Angst vor denen, die regierten. Und die hatten Angst vor der Wahrheit, weil sie schlecht und ungerecht regierten. In einem solchen Land ist es gefährlich, einen Feind zu haben. Freundschaft von einem Lärm an der Woh­nungstür wach. Er hörte fremde Männer rufen, und seine Mutter weinte laut. Kit stand auf und sah, wie drei Männer seinen Vater wegführten. „Hilf der Mutter, Kit!“ rief der. Es kann auch gefährlich sein in einem solchen Land.

Eines Nachts wurde Kit Vater geholt. Dann brachten sie ihn weg. Kit wußte, daß der Vater ins Gefängnis kam. Aber er wußte nicht weshalb. Die Mutter saß am Tisch und weinte. Kit fragte sie: „Was hat er getan?“ - „Er hat seine Freunde getroffen“, sagte die Mutter. „Sie haben von der Freiheit gesprochen.“ „Freiheit?“ fragte Kit. „Das ist doch ein Wort aus den Zeitungen. Darf man darüber nicht sprechen?“ Die Mutter sagte: „Die Zeitungen lügen. Dort steht nichts von der wirklichen Freiheit. Ohne Angst zu sein, das ist Freiheit. Und in diesem Land ist keiner ohne Angst. Dar­über haben die Männer gesprochen.“ - „Wer war dabei?“ fragte Kit. „Einer von denen muß den Vater verraten haben!“

„Keiner war dabei“, flüsterte die Mutter. „Hörst du, Kit? Keiner! Du darfst nichts davon wissen. Du weißt auch nichts vom Gefängnis. Du mußt sagen: Mein Vater ist verreist.“ Kit blieb bei seiner Mutter, bis es hell wurde. Dann schlief er am Tisch ein.

Am Tag darauf sollte Kit wie immer mit den anderen Kindern spielen. Die Mutter wollte es. Als er auf die Straße kam, lief Tapo weg. Das hatte er noch nie getan. Kit fragte die anderen Kinder: „Was hat er?“ Sie sagten: „Er muß zu Hause helfen.“ Und dann fragte einer: „Was war das für ein Lärm bei euch heute nacht ?“ Kit antwortete: „Mein Vater ist verreist. Bekannte haben ihn abgeholt.“ Die Kinder fragten nicht weiter. In der nächsten Zeit war Tapo nie dabei, wenn Kit mit den anderen spielte. Immer mußte Tapo zu Hause helfen. Auch seine Geschwister liefen weg, wenn Kit auf die Straße kam. Und mit Tapos Geschwistern hatte Kit keine Feindschaft. Kit begegnete Tapos Vater, und als er ihn grüßte, sah der Mann an ihm vorbei und ging schnell weiter. Da fragte Kit seine Mutter: „Wo hat Vater seine Freunde getroffen? Wo haben sie von der Freiheit geredet?“ - „Ich weiß es nicht“, sagte die Mutter. „Du weißt es. Du willst es nicht sagen. War es in der Gastwirtschaft von Tapos Vater?“ - „Ich weiß es nicht. Frag mich nicht. Du sollst nicht mehr daran denken.“ Aber Kit dachte weiter darüber nach: Bestimmt hatten der Vater und seine Freunde sich in der Gastwirtschaft von Tapos Vater getroffen. Tapo lief weg, wenn Kit auf die Straße kam. Tapos Geschwister gingen ihm auch aus dem Weg. Tapos Vater grüßte Kit nicht mehr. Es war, als hätten sie alle ein schlechtes Gewissen. Tapos Vater musste der Verräter sein. Kit sagte zu den anderen Kindern: „Ich weiß etwas Schlimmes von Tapos Vater.“ Er sagte das immer wieder, und die Kinder erzählten es ihren Eltern. Bald danach kam Tapo auf die Straße, als Kit dort mit den anderen Kindern spielte. Tapo sagte: „Heute habe ich Zeit. Wir haben die Gastwirtschaft zugemacht. Mein Vater musste verreisen.“ Tapo sah Kit an, als er das sagte. Kit drehte sich um und ging weg. Tapo lief ihm nach. An der Ecke wartete Kit auf ihn. Kit fragte: „Bekommt ihr viel Geld dafür, dass ihr meinen Vater verraten habt? Soviel, dass ihr die Gastwirtschaft jetzt zumachen könnt?“ Dann wollte er weitergehen. Aber Tapo packte ihn und warf ihn auf die Erde. Er hielt ihn fest, er flüsterte: „Du Schuft, du Hund, du hinterlistiger! Was redest du? Mein Vater ist jetzt auch im Gefängnis, weil du ihn verraten hast, du mit deinem gemeinen Geschwätz! Was hast du davon?“ - „Der ist doch nicht im Gefängnis! Das glaube ich nicht“, sagte Kit. „Der Verräter! Ihr habt ja alle ein schlechtes Gewissen. Weggelaufen seid ihr vor mir, und dein Vater wollte mich nicht mehr kennen.“ Tapo ließ ihn los. „Weil wir Angst hatten“, sagte er. „Verstehst du das nicht? Wenn einer zu viel redet und geschnappt wird, dann suchen sie nach seinen Freunden. Das weißt du doch.“ - „Und?“ fragte Kit. „Natürlich weiß ich das. Mein Vater ist nicht allein im Gefängnis. Viele von seinen Freunden sind dort, weil sie die Wahrheit gesagt haben, wie er.“ - „Ja“, sagte Tapo, „und mein Vater ist jetzt auch dabei. Deinetwegen! Niemand wusste etwas davon.“ - „Wovon?“ fragte Kit.

„Tu nicht so dumm!“ schrie Tapo. „Du weißt genau, was ich meine!“ Er sah sich um. Die anderen Kinder kamen. Tapo flüsterte: „Sie wollten ihn auch holen, damals in der Nacht. Er hat zu ihnen gesagt: „Ich bin doch nur der Gastwirt. Was meine Gäste reden, geht mich nichts an. Da höre ich nicht hin.“ Sie haben ihm geglaubt, aber wir hatten immer noch Angst. Wenn einer ihnen einmal ver­dächtig ist, schnüffeln sie weiter. Und dann hast du alles verraten mit deinem dummen Gerede !“ Tapo spuckte Kit vor die Füße und ging weg. „Du lügst! Du lügst !“ schrie Kit ihm nach. „Was ist?“ fragten die anderen Kinder. „Nichts“, sagte Kit und lief nach Hause. Er fragte seine Mutter: „Was weißt du vom Gastwirt? Jetzt muß ich das wissen. Tapo sagt, sie hätten seinen Vater ins Gefängnis ge­holt.“ Die Mutter erschrak. Sie sagte: „Der Gastwirt war Vaters Freund“. Kit glaubte das nicht. Er wollte es nicht glauben. Keiner glaubte dem anderen. Kit und Tapo blieben Feinde. Mißtrauen, Angst und Feindschaft sind nicht verboten in einem solchen Land.

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Der Mann mit dem Gedächtnis

Peter Bichsel

Ich kannte einen Mann, der wüßte den ganzen Fahrplan auswendig, denn das einzige, was ihm Freude machte, waren Eisenbahnen, und er verbrachte seine Zeit auf dem Bahnhof, schaute, wie die Züge ankamen und wie sie weg­fuhren. Er bestaunte die Wagen, die Kraft der Lokomoti­ven, die Größe 4er Räder, bestaunte die aufspringenden Kondukteure und den Bahnhofsvorstand. Er kannte jeden Zug, wußte, woher er kam, wohin er ging, wann er irgendwo ankommen wird und welche Züge von da wieder abfahren und wann diese ankommen werden.

Er wußte die Nummern der Züge, er wußte, an welchen Tagen sie fahren, ob sie einen Speisewagen haben, ob sie die Anschlüsse abwarten oder nicht. Er wußte, welche Züge Postwagen führen und wieviel eine Fahrkarte nach Frauenfeld, nach Olten, nach Niederbipp oder irgendwohin kostet.

Er ging in keine Wirtschaft, ging nicht ins Kino, nicht spazieren, er besaß kein Fahrrad, keinen Radio, kein Fernsehen, las keine Zeitungen, keine Bücher, und wenn er Briefe bekommen hätte, hätte er auch diese nicht gele­sen, Dazu fehlte ihm die Zeit, denn er verbrachte seine Tage im Bahnhof, und nur wenn der Fahrplan wechselte, im Mai und im Oktober, sah man ihn einige Wochen nicht mehr.

Dann saß er zu Hause an seinem Tisch und lerate auswen­dig» las den neuen Fahrplan von der ersten bis zur letzten Seite, merkte sich die Änderungen und freute sich über sie.

Es kam auch vor, daß ihn jemand nach einer Abfahrtszeit fragte. Dann strahlte er übers ganxe Gesicht und wollte genau wissen, wohin die Reise gehe, und wer ihn fragte, verpaßte die Abfahrtszeit bestimmt, denn er ließ den Fra­ger nicht mehr los, gab sich dicht damit zufrieden, die Zeit zu nennen, er nannte gleich die Nummer des Zuges, die Anzahl der Wagen, die möglichen Anschlüsse» die Fahr­zeiten; erklärte, daß man mit diesem Zug nach Paris fah­ren könne, wo man umsteigen müsse und wann man ankäme, und er begriff nicht, daß das die Leute nicht interessierte. Wenn ihn aber jemand stehenließ und wei­terging, bevor er sein ganzes Wissen erzählt hatte, wurde er böse, beschimpfte die Leute und rief ihnen nach: „Sie haben keine Ahnung von Eisenbahnen!“

Er selbst bestieg nie einen Zug.

Das hätte auch keinen Sinn, sagte er, denn er wisse ja zum voraus, wann der Zug ankomme.

„Nur Leute mit schlechtem Gedächtnis fahren Eisenbahn“, sagte er, „denn wenn sie ein gutes Gedächtnis hatten, könnten sie sich doch wie ich die Abfahrts- und die Ankunftszeit merken, und sie müßten nicht fahren, um die Zeit xu erleben.“

Ich versuchte es ihm zu erklären, ich sagte: „Es gibt aber Leute, die freuen sich über die Fahrt, die fahren gern Eisenbahn und schauen zum Fenster hinaus und schauen, wo sie vorbeikommen“, da wurde er böse, denn er dachte, ich werde ihn auslachen, und er sagte: „Auch das steht im Fahrplan, sie kom­men an Luterbach vorbei und an Deitigen, an Wangen, Niederbipp, Önsingen, Oberbuchsiten, Egerkingen und Hägendorf“. – „Vielleicht müssen die Leute mit der Bahn fahren, weil sie irgendwohin wollen“, sagte ich.

„Auch das kann nicht wahr sein“, sagte er, „denn fast alle kommen irgendeinmal zurück, und es gibt sogar Leute, die steigen jeden Morgen hier ein und kommen jeden Abend zurück - so ein schlechtes Gedächtnis haben sie. Und er begann die Leute auf dem Bahnhof zu beschimp­fen. Er rief ihnen nach: „Ihr Idioten, ihr habt kein Gedächtnis. Er rief ihnen nach: „An Hägendorf werdet ihr vorbeikommen“, und er glaubte, er verderbe ihnen damit den Spaß.

Er rief: „Sie Dumrnkopf, Sie sind schon gestern gefahren“. Und als die Leute nur lachten, begann er sie von den Trittbrettern zu reißen und beschwor sie, ja nicht mit dem Zug zu fahren.

„Ich kann Ihnen alles erklären“, schrie er, „Sie kommen um 14 Uhr 27 an Hägendorf vorbei, ich weiß es genau, und Sie werden es sehen, sie verbrauchen Ihr Geld für nichts, im Fahrplan steht alles.

Bereits versuchte er die Leute zu verprügeln. „Wer nicht hören will, muß fühlen“, rief er. Da blieb dem Bahnhofsvorstand nichts anderes übrig, als dem Mann zu sagen, daß er ihm den Bahiihof verbieten müsse, wenn er sich nicht anständig aufführe. Und der Mann erschrak, weil er ohne Bahnhof nicht leben konnte» und er sagte kein Wort mehr, saß den ganzen Tag auf der Bank, sah die Züge ankommen und die Züge wegfahren, er schaute den Leuten nach und konnte sie nicnt begreifen.

Hier wäre die Geschichte eigentlich zu Ende. Aber viele Jahre später wurde im Bahnhof ein Auskunftsbüro eröffnet. Dort saß ein Beamter in Uniform hinter dem Schalter, und er wußte auf alle Fragen über die Bahn eine Antwort. Das glaubte der Mann mit dem Gedächtnis nicht, und er ging jeden Tag ins neue Auskunftsbüro und fragte etwas sehr Kompliziertes, um den Beamten zu prüfen. Er fragte: „Welche Zugnummer hat der Zug, der um 16 Uhr 24 an den Sonntagen im Sommer in Lübeck ankommt?“ Der Beamte schlug ein Buch auf und nannte die Zahl. Er fragte: „Wann bin ich in Moskau, wenn ich hier mit dein Zug um 6 Uhr 59 abfahre?“, und der Beamte sagte es ihm.

Da ging der Mann mit dem Gedächtnis nach Hause, verbrannte seine Fahrpläne und vergaß alles, was er wußte. Am ändern Tag aber fragte er den Beamten: „Wie viele Stufen hat die Treppe vor dem Bahnhof?“, und der Beamte sagte: „Ich weiß es nicht“. Jetzt rannte der Mann durch den ganzen Bahnhof, machte Luftspriinge vor Freude und rief: „Er weiß es nicht, er weiß es nicht.“

Und er ging hin und zahlte die Stufen der Bahnhofstreppe und prägte sich die Zahl in sein Gedächtnis ein, in dem jetzt keine Abfahrtszeiten mehr waren. Dann sah man ihn nie mehr im Bahnhof. Er ging jetzt in der Stadt von Haus zu Haus und zählte die Treppenstufen und merkte sie sich, und er wußte jetzt Zahlen, die in keinem Buch der Welt stehen. Als er aber die Zahl der Treppenstufen in der ganzen Stadt kannte, kam er auf den Bahnhof, ging an den Bahnschalter, kaufte sich eine Fahrkarte und stieg zum ersten Mai in seinem Leben in einen Zug, um in eine andere Stadt zu fahren und auch dort die Treppenstufen zu zählen, und dann weiter zu fahren, um die Treppenstufen in der gan­zen Welt zu zahlen, um etwas zu wissen, was niemand weiß und was kein Beamter in Büchern nachlesen kann.

9

Unverhofftes Wiedersehen

Johann Peter Hebel

In Falun in Schweden küsste vor guten fünfzig Jahren und mehr ein junger Bergmann seine junge hübsche Braut und sagte zu ihr: „Auf Sankt Luciä wird unsere Liebe von des Priesters Hand gesegnet. Dann sind wir Mann und Frau und bauen uns ein eigenes Nestlein.“ – „Und Friede und Liebe soll darin wohnen“, sagte die schöne Frau mit holdem Lächeln, „denn du bist mein Einziges und Alles, und ohne dich möchte ich lieber im Grab sein als an einem anderen Ort.“. Als sie aber vor Sankt Luciä der Pfarrer zum zweiten mal in der Kirche ausgerufen hatte: „So nun jemand Hindernis wusste anzuzeigen, warum diese Per­sonen nicht möchten ehelich zusammenkommen“, da meldete sich der Tod. Denn als der Jüngling den anderen Morgen in seiner schwarzen Bergmannskleidung an ihrem Haus vorbei­ging, der Bergmann hat sein Totenkleid immer an, da klopfte er zwar noch einmal an ihrem Fenster und sagte ihr guten Morgen, aber keinen guten Abend mehr. Er kam nimmer aus dem Berg­werk zurück, und sie säumte vergeblich selbigen Morgen ein schwarzes Halstuch mit rotem Rand für ihn zum Hochzeitstag, sondern als er nimmer kam, legte sie es weg und weinte um ihn und vergaß ihn nie.

Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein Erdbeben zerstört, und der siebenjährige Krieg ging vorüber, und Kaiser Franz der Erste starb, und der Jesuiten-Orden wurde aufgehoben und Polen geteilt, und die Kaiserin Maria Theresia starb, und Amerika wurde frei, und die verei­nigte französische und spanische Macht konnte Gibraltar nicht erobern, und der Kaiser Joseph starb auch. Der König Gustav von Schweden eroberte russisches Finnland, und die französische Revolution und der lange Krieg fing an, und der Kaiser Leopold der Zweite ging auch ins Grab. Napoleon eroberte Preußen, und die Engländer bombardierten Kopenhagen, und die Ackerleute säeten und schnitten. Der Müller mahlte, und die Schmiede hämmerten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern in ihrer unterirdischen Werkstatt.

Als aber die Bergleute in Falun im Jahre 1809 etwas vor oder nach Johannis zwischen zwei Schachten eine Öffnung durchgraben wollten, gute dreihundert Ellen tief unter dem Boden, gruben sie aus dem Schutt und Vitriolwasser den Leichnam eines Jünglings heraus, der ganz mit Eisenvitriol durchdrungen, sonst aberunverändert war; also dass man seine Gesichtszüge und sein Alter noch völlig erkennen konnte, als wenn er erst vor einer Stunde gestorben und ein wenig eingeschlafen wäre an der Arbeit. Als man ihn aber zu Tag ausgefördert hatte, Vater und Mutter, Gefreundete und Bekannte waren schon lange tot, kein Mensch wollte den schlafenden Jüngling kennen oder etwas von seinem Unglück wissen, bis die ehemalige Verlobte des Bergmannes kam, der eines Tages auf die Schicht gegangen war und nimmer zurückkehrte. Grau und zusammengeschrumpft kam sie an einer Krücke an den Platz und erkannte ihren Bräutigam; und mehr mit freudigem Entzücken als mit Schmerz sank sie auf die geliebte Leiche nieder, und erst als sie sich von einer langen heftigen Bewegung des Gemüts erholt hatte, „es ist mein Verlobter, sagte sie endlich, „um den ich fünfzig Jahre lang getrauert hatte und den mich Gott noch einmal sehen lässt vor meinem Ende. Acht Tage vor der Hochzeit ist er auf die Grube gegangen und nim­mer gekommen“.

Da wurden die Gemüter aller Umstehenden von Wehmut und Tränen ergriffen, als sie sahen die ehemalige Braut jetzt in der Gestalt des hingewelkten kraftlosen Alters und den Bräutigam noch in seiner jugendlichen Schöne, und wie in ihrer Brust nach fünfzig Jahren die Flamme der jugendlichen Liebe noch einmal erwachte; aber er öffnete den Mund nimmer zum Lächeln oder die Augen zum Wiedererkennen; und wie sie ihn endlich von den Bergleuten in ihr Stüblein tragen ließ, als die einzige, die ihm angehöre und ein Recht an ihn habe, bis sein Grab gerüstet sei auf dem Kirchhofe. Den anderen Tag, als das Grab gerüstet war auf dem Kirchhof und ihn die Bergleute holten, schloss sie ein Kästchen auf, legte ihm das schwarzseidene Halstuch mit roten Streifen um und begleitete ihn in ihrem Sonntagsgewand, als wenn es ihr Hochzeitstag und nicht der Tag seiner Beerdigung wäre. Denn als man ihn auf dem Kirchhof ins Grab legte, sagte sie: „Schlafe nun wohl, noch einen Tag oder zehn im kühlen Hochzeitbett, und lass dir die Zeit nicht lang werden. Ich habe nur noch ein wenig zu tun und komme bald, und bald wird's wieder Tag.“ – „Was die Erde einmal wiedergegeben hat, wird sie zum zweiten mal auch nicht behalten“, sagte sie, als sie fort­ging und noch einmal umschaute.

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Das gestohlene Geschenk

Werner Helwig

Die langen Molen ertrugen in schwarzer Gelassenheit den Andrang der Wogen. Atemholen — Bruch, — Atemholen — Bruch, das ging schon seit Stunden so, ohne sein ruhiges Gleichmaß zu verändern. Die Molen, die Wogen und das graue Kastell, das steil dem Vorgebirge entwuchs, be­fingerte der Leuchtturm mit seinem kreisenden Strahl.

Die räuchernden Feuer aus feuchtem Treibholz vor unseren Zelten waren am Verlöschen. Schlaf hatte Gespräch und Gelächter erstickt. „Es ist Zeit“, flüsterte Franz mir zu. Ich schälte mich aus meinen Decken, unter denen ich angezogen gelauert hatte. Wir strebten schleichend zum Südende des Strandes, wo zu Füßen des Kastells die Fischerboote hoch auf den Sand gezogen ruhten. Die Dünengräser schnitten uns in die nackten Kniekehlen. Wir wählten ein leichteres Boot, das der Flutlinie am nächsten lag. Schmatzend glitt der Bug ins Wasser. Franz trug die Riemen herbei, die unter einem Bretterdach verborgen waren. Wir fügten sie in die Dollen und drückten das Boot durch die wiegende Brandung ins Offene. Bis an die Hosentaschen hinauf naß, zitternd vor Kälte, Abenteuerlust und Angst, saßen wir auf den Duchtbrettern und lenkten in Richtung des Vorgebirges, wo es einen Ort der Stille gab, im Windschatten und frei von Brandung. Nur ein schaumloses Atmen trug uns. Nun nicht mehr vom Leuchtturm geblendet, suchten wir nach den unförmigen Korkschwimmern, die, mit rotweißen Fähnchen bewimpelt, den Standort der Krebsreusen anzeigten.

Franz nahm beide Ruder, während ich mich über Bord neigte und eine der Reusen hochzog. Sie war grausam schwer.. Ich vermutete Dutzende von Hummern in ihr. Aber kaum hatte ich sie, die wie ein Teesieb das Wasser durchtröpfeln ließ, überm Wasser, fühlte sie sich leicht an, wie ein Papier­korb. Erst die dritte war ergiebig. Wie Bündel von hörnernen Salatbestecken schlugen wunderliche Ritter der Tiefe ihre Scheren und Schwänze klappernd aneinander und stelzten hilflos in ihrem Gefängnis umher. Ich öffnete die Verschlußklappe und versuchte ihrer einen zu fassen. „Du mußt sie oben am Rücken, hinter den Scheren packen“, flüsterte Franz mir zu, der sich von den Rüdem nach rückwärts zu mir wandte. Ich hatte Hand und Arm mit einem Schal bandagiert und versuchte im Ungewissen Licht des Sternhimmels einen besonders fetten Hummer ausfindig zu machen. Die Reuse, die ich zur Hälfte auf dem Schoß hielt, durchnäßte Hemd und Hose. An den Knien spürte ich die sagenhaft gezackten, verzweifelt durch die Reusenmaschen tastenden Beine der Hummern. Endlich hatte ich einen. Ich ließ ihn sich in die Fransen des Schals verbeißen und zog ihn hervor. „Einen haben wir“, sagte ich. „Nimm zwei“, meinte Franz. „Ach was“, sagte ich, „einer ist genug. Schau, was für ein Riese“. Damit zeigte ich ihn am Schal empor. Er ließ los und plumpste auf die Bootsplanken. „Mensch, schnapp ihn“, schrie Franz, „sonst haben wir ihn an der Wade“. Und er sprang mit seinen nackten Füßen auf die Bretter der Ducht, während das Panzertier krabbelnd im Boot herumzuwandern begann. Ich ließ die Reuse über Bord fallen. Schnaufend versank sie, hinterließ ein schaumiges Brodeln auf der glasflüssigen Wasserfläche und war bald unter ihrer tänzelnden Korkboje verschwunden. Das führungslose Boot näherte sich bedenklich dem steilen Vorgebirge. Ich jagte, auf den Bordrändern herumkriechend, unseren Gefangenen. Schließlich packte ich ihn mit dem Schal und wickelte ihn hinein, oder vielmehr, ließ ihn sich darin verwickeln. Er besorgte das von selbst. Eilends strebten wir zum Strand zurück, denn die Stunde näherte sich, wo die Fischer ausführen, um ihre Fanggeräte einzuholen. Es klappte soweit alles ganz gut. Nur das Boot bekamen wir nicht so hoch auf den Strand hinauf, wie es vorher gelegen hatte. Wir schlüpften mit unserer Beute ins Zelt. Keiner der Kameraden hatte unsere Abwesenheit bemerkt. Allenthalben tönte friedliches Schnarchen hinter den Leinwänden. Das Feuer verglomm in der auffrischenden Brise.

Morgens erwachten wir von einem reichlichen Stimmgewirr, das sich gerade vor unserem Zelteingang abzuspielen schien. Wir spähten unter der Zeltpforte durch hinaus, wobei uns ein fürchterliches Herzklopfen ganz hoch im Halse zu ersticken drohte. Und was wir so in halber Sicht entdeckten, war sehr geeignet, dieses Herzklopfen zu verstärken. Da war eine Reihe schwarzer Gummischaftstiefel mit gelben Sohlen, der gegenüber sich die nackten Beine unserer Kameraden erkennen ließen. Kein Zweifel, das waren die Fischer. Ihr unverständlicher Dialekt brummelte zu uns herein. Franz schnappte den Hummer, den wir in unseren Kochkessel gesteckt hatten, riß den Zelteingang auf und schrie: „Wir haben es getan“. Aber er wurde mit seiner lobenswerten Ehrlichkeit gar nicht bemerkt. Und mutiger geworden, schlüpften wir hinaus und sahen etwas, das uns viel tiefer beschämte als jedes zu befürchtende Verhör. Die braven Fischer hatten uns einen ganzen Korb voll Hummern, Einsiedlerkrebsen und Plattfischen gebracht, um, wie sie umständlich erklärten, unseren Küchenzettel zu bereichern.

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