Добавил:
Upload Опубликованный материал нарушает ваши авторские права? Сообщите нам.
Вуз: Предмет: Файл:
Malerei Plastik Architektur.doc
Скачиваний:
74
Добавлен:
18.02.2016
Размер:
673.28 Кб
Скачать

Der Kettensprenger

Als Fabian die kleine hölzerne Gartentür neben dem plätschernden Brunnen öffnete, nickte ihm die Wirtschafterin Wolfgangs, eine alte Bäuerin, aus dem niedrigen Küchenfenster zu. Durch eine kleine Diele gelangte er in Wolfgangs geräumigen Arbeitsraum und sah zwei lebhaft plaudernde, zigarrenrauchende Männer in niedrigen Sesseln sitzen. Sie saßen vor einer lebensgroßen Figur, deren Ton noch feucht glänzte. An dem hellen Arbeitskittel, dem wirren Stoff angegrauter dunkler Haare und der dünnen Virginia im Mund erkannte er seinen Bruder, während die krausen braunen Haare den Lehrer Gleichen vermuten ließen, der häufig bei ihm verkehrte „Empörend und schamlos!“ rief Lehrer Gleichen eben mit einer lebhaften Gebärde aus…

Wolfgang erblickte ihn zuerst, sprang auf und eilte ihm entgegen. „Der Frank!“ rief er erfreut aus. „Seht an, der Frank!“

Auch Lehrer Gleichen erhob sich, um ihn zu begrüßen. „Du kommst gerade recht zu unserer kleinen Beratung!“ fuhr der Bildhauer fort, während er den Bruder mit zärtlichen Blicken betrachtete. „Ich habe mich nämlich heute entschlossen, vor einigen Stunden, genau gesagt, den Akt endlich fertigzumachen und ihn im Oktober zur großen Ausstellung nach München zu schicken. Das ist es also, worüber wir uns beide besprachen.“

Fabian wandte den Blick zu der noch feuchten Tonfigur hin. „Der Kettensprenger!“ rief er aus. „Endlich also bist du soweit!“ Wolfgang nickte. „Ja, das ist er“, sagte er. „Er soll nun endlich fertig werden. Natürlich wird es noch einige heiße Wochen kosten!“

„Sie kennen ja Wolfgang“, mischte sich Gleichen ein. „Er ist nie zufrieden. Ich behaupte aber, auch nur die kleinste Veränderung wäre ein Verbrechen.“

Der Bildhauer lachte. „Am Rücken ist noch manches zu verbessern…“

Fabian kannte den „Kettensprenger“ seit langer Zeit. Wolfgang arbeitete seit einem Jahr daran. Monatelang stand er zuweilen, in feuchte Lappen eingehüllt, ungeachtet in einer Ecke des Ateliers. Nun freute es ihn, dass Wolfgang die Arbeit endlich zu Ende gebracht hatte und sie ihm ganz außerordentlich gelungen zu sein schien.

Es war die Gestalt eines zarten Jünglings, der mit verhaltener Kraft und einem unmerklichen Lächeln der trotzigen Lippen die Glieder einer Kette über dem Knie sprengte. Nichts sonst. Die leicht vorgeneigte Haltung des Jünglings, das Aufatmen und Dehnen seiner Brust, die gebundene und unwiderstehliche Ballung seiner Kräfte schienen Fabian schlechthin vollendet. Wolfgang verabscheute alles Übertriebene, Gewaltmäßige, Brutale, „mit Muskeln macht man keine Plastik“, sagte er. Fabian gab seiner Bewunderung Ausdruck. „Herrlich!“ sagte er. „Vielleicht konnte nur ein Meunier ähnlich empfinden.“ Er zeigte sich gerne geistreich und vielseitig.

„Sprich nicht, ich bitte dich“, unterbrach ihn Wolfgang. „Worte haben noch nie ein Kunstwerk geschaffen, aber schon manches zerstört.“ Er blickte, zuweilen mit den Augen blinzelnd, prüfend auf die Figur.

Erst jetzt sah Fabian, dass die Figur einen Sockel bekommen hatte, auf dem die Worte „Lieber tot als Sklave“ eingegraben waren.

„Der Kettensprenger“ hat ja neuerdings einen Wahlspruch bekommen?“ sagte er. „Oder habe ich es früher übersehen?“

Wolfgang schwieg eine Weile, dann lachte er auf. „ Das ist ja eine Sache!“ rief er. „Dieser Wahlspruch ist in erster Linie die Ursache, dass ich die Figur ausstellen will, und zwar gerade jetzt. Nicht wahr, Gleichen? Wir sprechen lange darüber.“

Lehrer Gleichen nickte. „Es ist ein Protest!“ erklärte er, und flüchtige rote Flecken erschienen auf seinen fahlen, hageren Wangen. „Es ist ein Protest gegen würdelose Unterwürfigkeit.“

„Wird man den Protest nicht als Provokation empfinden?“ fragte Fabian.

Wolfgang zuckte die Achseln. „Es fragt sich sehr, ob man den Protest überhaupt als Protest erkennen wird. Wenn man ihn als Provokation empfinden sollte, umso besser. Mir ist alles einerlei. Jedenfalls werden Tausende den Protest sofort verstehen, und damit habe ich meine Absicht erreicht! Und nun wollen wir den Akt vorläufig wieder einhüllen.“

Er legte feuchte Tücher um die Figur, die bald als hässliches unförmiges Bündel dastand. Zuletzt verhüllte er den Sockel mit dem Spruch.

(nach B. Kellerman)

Соседние файлы в предмете [НЕСОРТИРОВАННОЕ]