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ausgezeichneten Erschließens, weil sie vereinzelt. Diese Vereinzelung holt das Dasein aus seinem Verfallen zurück und macht ihm Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit als Möglichkeiten seines Seins offenbar. Diese Grundmöglichkeiten des Daseins, das je meines ist, zeigen sich in der Angst wie an ihnen selbst, unverstellt durch innerweltliches Seiendes, daran sich das Dasein zunächst und zumeist klammert.

Inwiefern ist mit dieser existenzialen Interpretation der Angst ein phänomenaler Boden gewonnen für die Beantwortung der leitenden Frage nach dem Sein der Ganzheit des Strukturganzen des Daseins?

§ 41. Das Sein des Daseins als Sorge

In der Absicht, die Ganzheit des Struktur ganzen ontologisch zu fassen, müssen wir zunächst fragen: Vermag das Phänomen der Angst und das in ihr Erschlossene das Ganze des Daseins phänomenal gleichursprünglich so zu geben, daß sich der suchende Blick auf die Ganzheit an dieser Gegebenheit erfüllen kann? Der Gesamtbestand dessen, was in ihr liegt, läßt sich in formaler Aufzählung registrieren: Das Sichängsten ist als Befindlichkeit eine Weise des In-der-Weltseins; das Wovor der Angst ist das geworfene In-der-Welt-sein; das Worum der Angst ist das In- der-Welt-sein-können. Das volle Phänomen der Angst demnach zeigt das Dasein als faktisch existierendes In-der-Welt-sein. Die fundamentalen ontologischen Charaktere dieses Seienden sind Existenzialität, Faktizität und Verfallensein. Diese existenzialen Bestimmungen gehören nicht als Stücke zu einem Kompositum, daran zuweilen eines fehlen könnte, sondern in ihnen webt ein ursprünglicher Zusammenhang, der die gesuchte Ganzheit des Strukturganzen ausmacht. In der Einheit der genannten Seinsbestimmungen des Daseins wird dessen Sein als solches ontologisch faßbar. Wie ist diese Einheit selbst zu charakterisieren?

Das Dasein ist Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht. Das »es geht um...« hat sich verdeutlicht in der Seinsverfassung des Verstehens als des sichentwerfenden Seins zum eigensten Seinkönnen. Dieses ist es, worumwillen das Dasein je ist, wie es ist. Das Dasein hat sich in seinem Sein je schon zusammengestellt mit einer Möglichkeit seiner selbst. Das Freisein für das eigenste Seinkönnen und damit für die Möglichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit zeigt sich in einer ursprünglichen, elementaren Konkretion in der Angst. Das Sein zum eigensten Sein können besagt aber ontologisch: das Dasein ist ihm selbst in seinem Sein je schon vorweg.

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Dasein ist immer schon »über sich hinaus«, nicht als Verhalten zu anderem Seienden, das es nicht ist, sondern als Sein zum Seinkönnen, das es selbst ist. Diese Seinsstruktur des wesenhaften »es geht um...« fassen wir als das Sich-vorweg-sein des Daseins.

Diese Struktur betrifft aber das Ganze der Daseinsverfassung. Das Sich-vorweg-sein bedeutet nicht so etwas wie eine isolierte Tendenz in einem weltlosen »Subjekt«, sondern charakterisiert das In-der-Welt-sein. Zu diesem gehört aber, daß es ihm selbst überantwortet, je schon in eine Welt geworfen ist. Die Überlassenheit des Daseins an es selbst zeigt sich ursprünglich konkret in der Angst. Das Sich-vorweg-sein besagt voller gefaßt: Sich-vor- weg-im-schon-sein-in-einer-Welt. Sobald diese wesenhaft einheitliche Struktur phänomenal gesehen ist, verdeutlicht sich auch das, was früher bei der Analyse der Weltlichkeit herausgestellt wurde. Dort ergab sich: das Verweisungsganze der Bedeutsamkeit, als welche die Weltlichkeit konstituiert, ist »festgemacht« in einem Worum-willen. Die Verklammerung des Verweisungsganzen, der mannigfaltigen Bezüge des »Um-zu«, mit dem, worum es dem Dasein geht, bedeutet kein Zusammenschweißen einer vorhandenen »Welt« von Objekten mit einem Subjekt. Sie ist vielmehr der phänomenale Ausdruck der ursprünglich ganzen Verfassung des Daseins, dessen Ganzheit jetzt explizit abgehoben ist als Sich- vorweg-im-schon-sein-in ... Anders gewendet: Existieren ist immer faktisches. Existenzialität ist wesenhaft durch Faktizität bestimmt.

Und wiederum: faktisches Existieren des Daseins ist nicht nur überhaupt und indifferent ein geworfenes In-der-Welt-sein-kön- nen, sondern ist immer auch schon in der besorgten Welt aufgegangen. In diesem verfallenden Sein bei... meldet sich ausdrücklich oder nicht, verstanden oder nicht das Fliehen vor der Unheimlichkeit, die zumeist mit der latenten Angst verdeckt bleibt, weil die Öffentlichkeit des Man alle Unvertrautheit niederhält. Im Sich-vorweg-schon-sein-in-einer-Welt liegt wesenhaft mitbeschlossen das verfallende Sein beim besorgten innerweltlichen Zuhandenen.

Die formal existenziale Ganzheit des ontologischen Strukturganzen des Daseins muß daher in folgender Struktur gefaßt werden: Das Sein des Daseins besagt: Sich-vorweg-schon-sein-in-(der- Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden). Dieses Sein erfüllt die Bedeutung des Titels Sorge, der rein ontologischexistenzial gebraucht wird. Ausgeschlossen bleibt aus der Bedeutung jede ontisch gemeinte Seinstendenz wie Besorgnis, bzw. Sorglosigkeit.

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Weil das In-der-Welt-sein wesenhaft Sorge ist, deshalb konnte in den voranstehenden Analysen das Sein bei dem Zuhandenen als Besorgen, das Sein mit dem innerweltlich begegnenden Mitdasein Anderer als Fürsorge gefaßt werden. Das Sein-bei... ist Besorgen, weil es als Weise des In-Seins durch dessen Grundstruktur, die Sorge, bestimmt wird. Die Sorge charakterisiert nicht etwa nur Existenzialität, abgelöst von Faktizität und Verfallen, sondern umgreift die Einheit dieser Seinsbestimmungen. Sorge meint daher auch nicht primär und ausschließlich ein isoliertes Verhalten des Ich zu ihm selbst. Der Ausdruck »Selbstsorge« nach der Analogie von Besorgen und Fürsorge wäre eine Tautologie. Sorge kann nicht ein besonderes Verhalten zum Selbst meinen, weil dieses ontologisch schon durch das Sich-vor- weg-sein charakterisiert ist; in dieser Bestimmung sind aber auch die beiden anderen strukturalen Momente der Sorge, das Schon- sein-in ... und das Sein-bei... mitgesetzt.

Im Sich-vorweg-sein als Sein zum eigensten Seinkönnen liegt die existenzial-ontologische Bedingung der Möglichkeit des Freiseins für eigentliche existenzielle Möglichkeiten. Das Seinkönnen ist es, worumwillen das Dasein je ist, wie es faktisch ist. Sofern nun aber dieses Sein zum Seinkönnen selbst durch die Freiheit bestimmt wird, kann sich das Dasein zu seinen Möglichkeiten auch unwillentlich verhalten, es kann uneigentlich sein und ist faktisch zunächst und zumeist in dieser Weise. Das eigentliche Worumwillen bleibt unergriffen, der Entwurf des Seinkönnens seiner selbst ist der Verfügung des Man überlassen. Im Sich-vor- weg-sein meint daher das »Sich« jeweils das Selbst im Sinne des Man-selbst. Auch in der Uneigentlichkeit bleibt das Dasein wesenhaft Sich-vorweg, ebenso wie das verfallende Fliehen des Daseins vor ihm selbst noch die Seinsverfassung zeigt, daß es diesem Seienden um sein Sein geht.

Die Sorge liegt als ursprüngliche Strukturganzheit existenzialapriorisch »vor« jeder, das heißt immer schon in jeder faktischen »Verhaltung« und »Lage« des Daseins. Das Phänomen drückt daher keineswegs einen Vorrang des »praktischen« Verhaltens vor dem theoretischen aus. Das nur anschauende Bestimmen eines Vorhandenen hat nicht weniger den Charakter der Sorge als eine »politische Aktion« oder das ausruhende Sichvergnügen. »Theorie« und »Praxis« sind Seinsmöglichkeiten eines Seienden, dessen Sein als Sorge bestimmt werden muß.

Daher mißlingt auch der Versuch, das Phänomen der Sorge in seiner wesenhaft unzerreißbaren Ganzheit auf besondere Akte oder

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Triebe wie Wollen und Wünschen oder Drang und Hang zurückzuleiten, bzw. aus ihnen zusammenzubauen.

Wollen und Wünschen sind ontologisch notwendig im Dasein als Sorge verwurzelt und nicht einfach ontologisch indifferente, in einem seinem Seinssinne nach völlig unbestimmten »Strom« vorkommende Erlebnisse. Das gilt nicht minder von Hang und Drang. Auch sie gründen, sofern sie im Dasein überhaupt rein aufweisbar sind, in der Sorge. Das schließt nicht aus, daß Drang und Hang ontologisch auch Seiendes konstituieren, das nur »lebt«. Die ontologische Grundverfassung von »leben« ist jedoch ein eigenes Problem und nur auf dem Wege reduktiver Privation aus der Ontologie des Daseins aufzurollen.

Die Sorge ist ontologisch »früher« als die genannten Phänomene, die freilich immer in gewissen Grenzen angemessen »beschrieben« werden können, ohne daß der volle ontologische Horizont sichtbar oder überhaupt auch nur bekannt zu sein braucht. Für die vorliegende fundamentalontologische Untersuchung, die weder eine thematisch vollständige Ontologie des Daseins anstrebt, noch gar eine konkrete Anthropologie, muß ein Hinweis darauf genügen, wie diese Phänomene existenzial in der Sorge gegründet sind.

Das Seinkönnen, worumwillen das Dasein ist, hat selbst die Seinsart des In-der-Welt-seins. In ihm liegt demnach ontologisch der Bezug auf innerweltliches Seiendes. Sorge ist immer, wenn auch nur privativ, Besorgen und Fürsorge. Im Wollen wird ein verstandenes, das heißt auf seine Möglichkeit entworfenes Seiendes als zu besorgendes bzw. als durch Fürsorge in sein Sein zu bringendes ergriffen. Deshalb gehört zum Wollen je ein Gewolles, das sich schon bestimmt hat aus einem Worum-willen. Für die ontologische Möglichkeit von Wollen ist konstitutiv: die vorgängige Erschlossenheit des Worumwillen überhaupt (Sich-vorweg- sein), die Erschlossenheit von Besorgbarem (Welt als das Worin des Schon-seins) und das verstehende Sichentwerfen des Daseins auf ein Seinkönnen zu einer Möglichkeit des »gewollten« Seienden. Im Phänomen des Wollens blickt die zugrundeliegende Ganzheit der Sorge durch.

Das verstehende Sichentwerfen des Daseins ist als faktisches je schon bei einer entdeckten Welt. Aus dieser nimmt es – und zunächst gemäß der Ausgelegtheit des Man – seine Möglichkeiten. Diese Auslegung hat im vorhinein die wahlfreien Möglichkeiten auf den Umkreis des Bekannten, Erreichbaren, Tragbaren, dessen, was sich gehört und schickt, eingeschränkt. Diese Nivellierung der Daseinsmöglichkeiten auf das alltäglich zunächst Verfügbare vollzieht zugleich

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eine Abblendung des Möglichen als solchen. Die durchschnittliche Alltäglichkeit des Besorgens wird möglichkeitsblind und beruhigt sich bei dem nur »Wirklichen«. Diese Beruhigung schließt eine ausgedehnte Betriebsamkeit des Besorgens nicht aus, sondern weckt sie. Gewollt sind dann nicht positive neue Möglichkeiten, sondern das Verfügbare wird »taktisch« in der Weise geändert, daß der Schein entsteht, es geschehe etwas.

Das beruhigte »Wollen« unter Führung des Man bedeutet gleichwohl nicht ein Auslöschen des Seins zum Seinkönnen, sondern nur eine Modifikation. Das Sein zu den Möglichkeiten zeigt sich dann zumeist als bloßes Wünschen. Im Wunsch entwirft das Dasein sein Sein auf Möglichkeiten, die im Besorgen nicht nur unergriffen bleiben, sondern deren Erfüllung nicht einmal bedacht und erwartet wird. Im Gegenteil: die Vorherrschaft des Sich-vorweg-seins im Modus des bloßen Wünschens bringt ein Unverständnis der faktischen Möglichkeiten mit sich. Das In-der- Welt-sein, dessen Welt primär als Wunsch-weit entworfen ist, hat sich haltlos an das Verfügbare verloren, so jedoch, daß dieses als das einzig Zuhandene im Lichte des Gewünschten doch nie genügt. Das Wünschen ist eine existenziale Modifikation des verstehenden Sichentwerfens, das, der Geworfenheit verfallen, den Möglichkeiten lediglich noch nachhängt. Solches Nachhängen verschließt die Möglichkeiten; was im wünschenden Nachhängen »da« ist, wird zur »wirklichen Welt«. Wünschen setzt ontologisch Sorge voraus.

Im Nachhängen hat das Schon-sein-bei... den Vorrang. Das Sich-vorweg-im-schon-sein-in... ist entsprechend modifiziert. Das verfallende Nachhängen offenbart den Hang des Daseins, von der Welt, in der es je ist, »gelebt« zu werden. Der Hang zeigt den Charakter des Ausseins auf... Das Sich-vorweg-sein hat sich verloren in ein »Nur-immer-schon-bei...«. Das »Hin-zu« des Hanges ist ein Sichziehenlassen von solchem, dem der Hang nachhängt. Wenn das Dasein in einem Hang gleichsam versinkt, dann ist nicht lediglich noch ein Hang vorhanden, sondern die volle Struktur der Sorge ist modifiziert. Blind geworden, macht es alle Möglichkeiten dem Hang dienstbar.

Dagegen ist der Drang »zu leben« ein »Hin-zu«, das von ihm selbst her den Antrieb mitbringt. Es ist »Hin-zu um jeden Preis«. Der Drang sucht andere Möglichkeiten zu verdrängen. Auch hier ist das Sich-vorweg-sein ein uneigentliches, wenn auch das Überfallensein vom Drang aus dem Drängenden selbst kommt. Der Drang kann die jeweilige Befindlichkeit und das Verstehen überrennen. Das Da-

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sein ist aber dann nicht und nie »bloßer Drang«, zu dem bisweilen andere Verhaltungen des Beherrschens und des Leitens hinzukommen, sondern es ist als Modifikation des vollen In-der-Welt- seins immer schon Sorge.

Im puren Drang ist die Sorge noch nicht frei geworden, obzwar sie erst das Bedrängtsein des Daseins aus ihm selbst her ontologisch möglich macht. Im Hang dagegen ist die Sorge immer schon gebunden. Hang und Drang sind Möglichkeiten, die in der Geworfenheit des Daseins wurzeln. Der Drang »zu leben« ist nicht zu vernichten, der Hang, von der Welt »gelebt« zu werden, ist nicht auszurotten. Beide aber sind, weil sie und nur weil sie ontologisch in der Sorge gründen, durch diese als eigentliche ontisch existenziell zu modifizieren.

Der Ausdruck »Sorge« meint ein existenzial-ontologisches Grundphänomen, das gleichwohl in seiner Struktur nicht einfach ist. Die ontologisch elementare Ganzheit der Sorgestruktur kann nicht auf ein ontisches »Urelement« zurückgeführt werden, so gewiß das Sein nicht aus Seiendem »erklärt« werden kann. Am Ende wird sich zeigen, daß die Idee von Sein überhaupt ebensowenig »einfach« ist wie das Sein des Daseins. Die Bestimmung der Sorge als Sich-vorweg-sein – im-schon-sein-in... – als Seinbei... macht deutlich, daß auch dieses Phänomen in sich noch struktural gegliedert ist. Ist das aber nicht das phänomenale Anzeichen dafür, daß die ontologische Frage noch weiter vorgetrieben werden muß zur Herausstellung eines noch ursprünglicheren Phänomens, das die Einheit und Ganzheit der Strukturmannigfaltigkeit der Sorge ontologisch trägt? Bevor die Untersuchung dieser Frage nachgeht, bedarf es einer rückblickenden und verschärften Zueignung des bislang Interpretierten in der Absicht auf die fundamentalontologische Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt. Vordem aber ist zu zeigen, daß das ontologisch »Neue« dieser Interpretation ontisch recht alt ist. Die Explikation des Seins des Daseins als Sorge zwängt dieses nicht unter eine erdachte Idee, sondern bringt uns existenzial zu Begriff, was ontisch-existenziell schon erschlossen ist.

§ 42, Die Bewährung der existenzialen Interpretation des Daseins als Sorge aus der vorontologischen Selbstauslegung des Daseins

In den vorstehenden Interpretationen, die schließlich zur Herausstellung der Sorge als Sein des Daseins führten, lag alles daran, für das Seiende, das wir je selbst sind und das wir »Mensch« nennen, die

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angemessenen ontologischen Fundamente zu gewinnen. Dazu mußte die Analyse von vornherein aus der Richtung auf den überlieferten, aber ontologisch ungeklärten und grundsätzlich fragwürdigen Ansatz herausgedreht werden, wie er durch die traditionelle Definition des Menschen vorgegeben ist. An dieser gemessen, mag die existenzial-ontologische Interpretation befremden, besonders dann, wenn »Sorge« lediglich ontisch als »Besorgnis« und »Bekümmernis« verstanden wird. Deshalb soll jetzt ein vorontologisches Zeugnis angeführt werden, dessen Beweiskraft zwar »nur geschichtlich« ist.

Bedenken wir jedoch: in dem Zeugnis spricht sich das Dasein über sich selbst aus, »ursprünglich«, nicht bestimmt durch theoretische Interpretationen und ohne Absicht auf solche. Beachten wir ferner: das Sein des Daseins ist durch Geschichtlichkeit charakterisiert, was allerdings erst ontologisch nachgewiesen werden muß. Wenn das Dasein im Grunde seines Seins »geschichtlich« ist, dann erhält eine Aussage, die aus seiner Geschichte kommt und in sie zurückgeht und überdies vor aller Wissenschaft liegt, ein besonderes, freilich nie rein ontologisches Gewicht. Das im Dasein selbst liegende Seinsverständnis spricht sich vorontologisch aus. Das im folgenden angeführte Zeugnis soll deutlich machen, daß die existenziale Interpretation keine Erfindung ist, sondern als ontologische »Konstruktion« ihren Boden und mit diesem ihre elementaren Vorzeichnungen hat.

Die folgende Selbstauslegung des Daseins als »Sorge« ist in einer alten Fabel niedergelegt:1

Cura cum fluvium transiret, videt cretosum lutum sustulitque cogitabunda atque coepit fingere. dum deliberat quid iam fecisset, Jovis intervenit.

rogat eum Cura ut det illi spiritum, et facile impetrat. cui cum vellet Cura nomen ex sese ipsa imponere,

Jovis prohibuit suumque nomen ei dandum esse dictitat. dum Cura et Jovis disceptant, Tellus surrexit simul suumque nomen esse volt cui corpus praebuerit suum.

1 Der Verf. stieß auf den folgenden vorontologischen Beleg für die existenzial-ontologische Interpretation des Daseins als Sorge durch den Aufsatz von K. Burdach, Faust und die Sorge. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte I (1923), S. 1 ff. B. zeigt, daß Goethe die Cura-Fabel, die als 220. der Fabeln des Hyginus überliefert ist, von Herder übernahm und für den zweiten Teil seines »Faust« bearbeitete. Vgl. besonders S. 40 ff. – Der obige Text ist zitiert nach F. Bücheler, Rheinisches Museum Bd. 41 (1886) S. 5, die Übersetzung nach Burdach, a. a. O. S. 41 f.

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sumpserunt Saturnum iudicem, is sic aecus iudicat: ›tu Jovis quia spiritum dedisti, in morte spiritum, tuque Tellus, quia dedisti corpus, corpus recipito, Cura enim quia prima finxit, teneat quamdiu vixerit. sed quae nunc de nomine eius vobis controversia est, homo vocetur, quia videtur esse factus ex humo.‹

»Als einst die »Sorge« über einen Fluß ging, sah sie tonhaltiges Erdreich: sinnend nahm sie davon ein Stück und begann es zu formen. Während sie bei sich darüber nachdenkt, was sie geschaffen, tritt Jupiter hinzu. Ihn bittet die »Sorge«, daß er dem geformten Stück Ton Geist verleihe. Das gewährt ihr Jupiter gern. Als sie aber ihrem Gebilde nun ihren Namen beilegen wollte, verbot das Jupiter und verlangte, daß ihm sein Name gegeben werden müsse. Während über den Namen die »Sorge« und Jupiter stritten, erhob sich auch die Erde (Tellus) und begehrte, daß dem Gebilde ihr Name beigelegt werde, da sie ja doch ihm ein Stück ihres Leibes dargeboten habe. Die Streitenden nahmen Saturn zum Richter. Und ihnen erteilte Saturn folgende anscheinend gerechte Entscheidung: »Du, Jupiter, weil du den Geist gegeben hast, sollst bei seinem Tode den Geist, du, Erde, weil du den Körper geschenkt hast, sollst den Körper empfangen. Weil aber die »Sorge« dieses Wesen zuerst gebildet, so möge, solange es lebt, die »Sorge« es besitzen. Weil aber über den Namen Streit besteht, so möge es »homo« heißen, da es aus humus (Erde) gemacht ist.«

Dieses vorontologische Zeugnis gewinnt dadurch eine besondere Bedeutung, daß es nicht nur überhaupt die »Sorge« als das sieht, dem das menschliche Dasein »zeitlebens« gehört, sondern daß dieser Vorrang der »Sorge« im Zusammenhang mit der bekannten Auffassung des Menschen als des Kompositums aus Leib (Erde) und Geist heraustritt. Cura prima finxit: Dieses Seiende hat den »Ursprung« seines Seins in der Sorge. Cura teneat, quamdiu vixerit: Das Seiende wird von diesem Ursprung nicht entlassen, sondern festgehalten, von ihm durchherrscht, solange dieses Seiende »in der Welt ist«. Das »In-der-Welt-sein« hat die seinsmäßige Prägung der »Sorge«. Den Namen (homo) erhält dieses Seiende nicht mit Rücksicht auf sein Sein, sondern in bezug darauf, woraus es besteht (humus). Worin das »ursprüngliche« Sein dieses Gebildes zu sehen sei, darüber steht die Entscheidung bei Saturnus, der »Zeit«.1 Die in der Fabel ausgedrückte

1 Vgl. Herders Gedicht: Das Kind der Sorge (Suphan XXIX, 75).

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vorontologische Wesensbestimmung des Menschen hat sonach im vorhinein die Seinsart in den Blick genommen, die seinen zeitlichen Wandel in der Welt durchherrscht.

Die Bedeutungsgeschichte des ontischen Begriffes »cura« läßt sogar noch weitere Grundstrukturen des Daseins durckblicken. Burdach1 macht auf einen Doppelsinn des Terminus »cura« aufmerksam, wonach er nicht nur »ängstliche Bemühung« bedeutet, sondern auch »Sorgfalt«, »Hingabe«. So schreibt Seneca in seinem letzten Brief (ep. 124): »Unter den vier existierenden Naturen (Baum, Tier, Mensch, Gott) unterscheiden sich die beiden letzten, die allein mit Vernunft begabt sind, dadurch, daß Gott unsterblich, der Mensch sterblich ist. Bei ihnen nun vollendet das Gute des Einen, nämlich Gottes, seine Natur, bei dem andern, dem Menschen, die Sorge (cura): unius bonum natura perficit, dei scilicet, alterius cura, hominis.«

Die perfectio des Menschen, das Werden zu dem, was er in seinem Freisein für seine eigensten Möglichkeiten (dem Entwurf) sein kann, ist eine »Leistung« der »Sorge«. Gleichursprünglich bestimmt sie aber die Grundart dieses Seienden, gemäß der es an die besorgte Welt ausgeliefert ist (Geworfenheit). Der »Doppelsinn« von »cura« meint eine Grundverfassung in ihrer wesenhaft zweifachen Struktur des geworfenen Entwurfs.

Die existenzial-ontologische Interpretation ist der ontischen Auslegung gegenüber nicht etwa nur eine theoretisch-ontische Verallgemeinerung. Das würde lediglich besagen: ontisch sind alle Verhaltungen des Menschen »sorgenvoll« und geführt durch eine »Hingabe« an etwas. Die »Verallgemeinerung« ist eine apri- orisch-ontologische. Sie meint nicht ständig auftretende ontische Eigenschaften, sondern eine je schon zugrunde liegende Seinsverfassung. Diese macht erst ontologisch möglich, daß dieses Seiende ontisch als cura angesprochen werden kann. Die existenziale Bedingung der Möglichkeit von »Lebenssorge« und »Hingabe« muß in einem ursprünglichen, das heißt ontologischen Sinne als Sorge begriffen werden.

Die transzendentale »Allgemeinheit« des Phänomens der Sorge und aller fundamentalen Existenzialien hat andererseits jene Weite, durch

1 a. a. O. S. 49. Schon in der Stoa war mrimna ein fester Terminus und kehrt im N. T. wieder, in der Vulgata als sollicitudo. – Die in der vorstehenden existenzialen Analytik des Daseins befolgte Blickrichtung auf die »Sorge« erwuchs dem Verf. im Zusammenhang der Versuche einer Interpretation der augustinischen – das heißt griechisch-christlichen

– Anthropologie mit Rücksicht auf die grundsätzlichen Fundamente, die in der Ontologie des Aristoteles erreicht wurden.

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