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Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben

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Kind herankommen. Ihr folgte ein zweiter Mann mit einer Hacke. Die Frau kam aus einer Art Schuppen, der hinter dem Haus errichtet war; der Mann von der andern Seite. Sie stellten sich um Graeber herum. »Was ist los, Otto?« fragte der Mann mit der Hacke den Krüppel. »Ich habe den hier erwischt. Schnüffelte herum. Behauptet, seine Eltern hätten hier gewohnt.« Der Mann mit der Hacke lachte unfreundlich. »Sonst noch was?»

»Nein«, sagte Graeber. »Genau das.»

»Etwas anderes fällt dir wohl nicht ein, was?« Der Mann wog die Hacke in der Hand und hob sie. »Verschwinde! Ich zähle bis drei. Sonst gibt’s einen kleinen Schädelbruch. Eins...« Graeber sprang von der Seite heran und schlug zu. Der Mann fiel, und Graeber riß ihm die Hacke aus der Hand. »So, das ist besser«, sagte er. »Und nun schreit nach der Polizei, wenn ihr wollt! Aber das wollt ihr wohl nicht, was?« Der Mann, der die Hacke gehabt hatte, stand langsam auf. Seine Nase blutete. »Versuch es lieber nicht noch einmal«, sagte Graeber. »Ich bin bei den Preußen für Nahkampf ausgebildet worden. Und nun sagt mir, was ihr hier macht.« Die Frau schob sich vor. »Wir leben hier. Ist das ein Verbrechen?»

»Nein. Und ich bin hier, weil meine Eltern hier gewohnt haben.

Ist das vielleicht ein Verbrechen?»

»Ist das wirklich Tatsache?« fragte der Krüppel. »Was sonst? Was ist hier schon zu stehlen?» »Genug für einen, der nichts hat«, sagte die Frau.

»Nicht für mich. Ich bin auf Urlaub und gehe wieder raus.

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Habt ihr den Zettel draußen vor der Haustür gesehen? Den, auf dem jemand seine Eltern sucht? Das bin ich.»

»Das bist du?« fragte der Krüppel. »Ja, das bin ich.»

»Das ist was anderes. Du verstehst, Kamerad, daß man mißtrauisch ist. Wir sind ausgebombt worden und haben uns hier untergebracht. Irgendwo muß man doch unterkommen.»

»Habt ihr das alles hier allein ausgeschaufelt?» »Zum Teil. Man hat uns dabei geholfen.» »Wer?»

»Bekannte, die Werkzeug haben.» »Habt ihr Tote gefunden?» »Nein.»

»Bestimmt nicht?»

»Bestimmt nicht. Wir nicht. Vielleicht sind früher welche dagewesen, aber wir haben keine gefunden.»

»Das war eigentlich alles, was ich wissen wollte«, sagte Graeber.

»Dazu brauchen Sie doch einem anderen Menschen nicht das Gesicht zu zerschlagen«, erwiderte die Frau. »Ist es Ihr Mann?» »Das geht Sie nichts an. Es ist nicht mein Mann. Es ist mein

Bruder. Er blutet.» »Nur die Nase.»

»Die Zähne auch.« Graeber hob die Hacke. »Und das? Was wollte er damit?»

»Er hätte Sie nicht angegriffen.»

»LiebeFrau«,sagteGraeber.»Ichhabegelernt,nichterstdarauf

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zu warten, daß man mich angreift.« Er warf die Hacke in weitem Bogen auf den Schutt. Alle sahen ihr nach. Das Kind schickte sich an, hinterherzuklettern. Die Frau hielt es zurück. Graeber blickte sich um. Er sah jetzt auch die Badewanne. Sie stand neben dem Schuppen. Die Treppe war wahrscheinlich verheizt worden. Auf einem Haufen lagen geöffnete Konservenbüchsen, Kleiderbügel, zerbeultes Geschirr, Stoffetzen, Kästen und Möbelstücke. Die Familie war eingezogen, hatte sich den Schuppen gebaut und betrachtete jetzt offen sichtlich alles, was sie aus dem Schutt herauswühlen konnte, als Manna Gottes. Es war nichts dagegen zu sagen. Das Leben ging weiter. Das Kind sah gesund aus. Der Tod war überwunden.

Die Ruinen waren schon wieder zu Unterkünften geworden. Es war nichts dagegen zu sagen.

»Ihr habt verdammt schnell gearbeitet«, sagte er.

»Man muß schnell arbeiten«, erwiderte der Krüppel. »Wenn man kein Dach überm Kopf hat.« Graeber wandte sich zum Gehen. »Habt ihr eine Katze hier gefunden?« fragte er. »So eine kleine schwarzweiße?»

»Unsere Rosa«, sagte das Kind.

»Nein«, erwiderte die Frau mürrisch. »Wir haben keine Katze gefunden.« Graeber kletterte zurück. Wahrscheinlich wohnten noch mehr Leute in dem Schuppen; sie hätten sonst nicht in so kurzer Zeit so weit kommen können. Aber vielleicht hatte auch ein Kommando ihnen geholfen. Nachts wurden jetzt öfter Häftlinge aus dem Konzentrationslager zum Aufräumen in die Stadt geschickt. Er ging zurück. Ihm war, als wäre er plötzlich

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ärmer geworden; er wußte nicht, warum.

Er kam in eine Straße, die völlig unzerstört war. Nicht einmal die großen Schaufenster der Läden waren zerbrochen. Gedankenlos ging er hindurch. Plötzlich schrak er auf. Er sah jemanden auf sich zukommen und merkte erst einen Augenblick später, daß er selber es war, der sich in dem schrägen Seitenspiegel eines Konfektionsgeschäftes entgegenschritt. Es war sonderbar

— als sähe er einen Doppelgänger und wäre schon nicht mehr er selbst, sondern nur noch eine Erinnerung, die weggewischt werden könnte, wenn er noch einen Schritt weiterginge. Er blieb stehen und starrte auf das blasse Bild in dem matten, gelblichen Spiegel. Er sah seine Augenhöhlen und darunter die Schatten, die die Augen verdeckten, als hätte er keine mehr. Eine kühle, fremde Angst beschlich ihn plötzlich. Es war keine Panik und kein Aufruhr, kein pressender eiliger Schrei des Daseins nach Flucht und Verteidigung und Wachsamkeit — es war eine leise, ziehende, kalte, fast unpersönliche Furcht, eine Furcht, die keinen Angriff zuließ, weil sie unsichtbar und unangreifbar war und aus einer Leere zu kommen schien, in der irgendwo ungeheure Pumpen aufgestellt waren, die lautlos das Blut aus seinen Adern saugten und das Leben aus seinen Knochen. Er sah sein Bild noch im Spiegel, aber ihm war, als müßte es gleich undeutlich werden, wellenförmig, als müßten die Ränder zerfließen und sich auflösen, aufgesogen von den schweigenden Pumpen, zurückgezogen aus dem Begrenzten und der zufälligen Form, die für kurze Zeit Ernst Graeber hieß, zurück in das Grenzenlose, das nicht nur Tod war, sondern entsetzlich viel mehr, Auslöschung, Auflösung, Ende des Ichs, Wirbel sinnloser

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Atome, Nichts.

Er stand eine Zeitlang. Was blieb? dachte er tief erschrocken. Was blieb, wenn er nicht mehr da war? Nichts, als die vergehende Erinnerung in den Köpfen weniger Menschen, seiner Eltern, wenn sie noch lebten, einiger Kameraden, Elisabeths vielleicht

— und für wie lange? Er sah den Spiegel an. Ihm war, als wäre er bereits leicht geworden wie ein Stück Papier, dünn, schattenhaft, und ein Windhauch könnte ihn wegtreiben, ausgesogen von den Pumpen, nur noch eine leere Hülse. Was blieb? Und wo konnte er sich festhalten, wo einen Anker auswerfen, wo Halt finden, wo etwas hinterlassen, das ihn hielt, um nicht völlig weggetrieben zu werden? »Ernst«, sagte jemand hinter ihm.

Er fuhr herum. Ein Mann auf Krücken, mit einem Bein, stand da. Einen Augenblick dachte Graeber, es wäre der Krüppel von der Hakenstraße; dann erkannte er Mutzig, einen Klassenkameraden. »Karl«, sagte er. »Du? Ich wußte nicht, daß du hier bist.»

»Schon lange. Fast ein halbes Jahr.« Sie sahen sich an. »Das hätte man auch nicht gedacht, was?« sagte Mutzig.

»Was?« Mutzig hob die Krücken an und setzte sich wieder nieder. »Das.»

»Du bist wenigstens aus der Scheiße raus. Ich muß wieder zurück.»

»Das kommt darauf an, wie man es ansieht. Wenn der Krieg noch ein paar Jahre dauert, ist es ein Glück; wenn er in sechs Wochen zu Ende ist, ist es ein verdammtes Pech.»

»Warum soll er in sechs Wochen zu Ende sein?»

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»Das weiß ich nicht. Ich sage nur: Wenn —» »Das natürlich.»

»Warum besuchst du uns nicht mal?« sagte Mutzig. »Bergmann ist auch hier. Beide Arme am Ellenbogen...»

»Wo seid ihr?»

»Im Stadtkrankenhaus. Amputiertenabteilung. Haben den ganzen linken Flügel. Komm doch mal vorbei.»

»Gut, ich komme.»

»Bestimmt? Alle sagen es immer, aber es kommt kein Aas.» »Ganz bestimmt.»

»Gut. Es wird dir Spaß machen. Wir sind eine fidele Gesellschaft. Wenigstens auf meiner Stube.« Sie sahen sich wieder an. Sie hatten sich drei Jahre nicht ge troffen; aber jetzt hatten sie bereits alles gesagt, was gesagt werden konnte.

»Also, mach’s gut, Ernst.»

»Du auch, Karl.« Sie schüttelten sich die Hände. »Weißt du, daß Sieber tot ist?« fragte Mutzig.

»Nein.»

»Vor sechs Wochen. Und Leiner?» »Leiner? Das weiß ich auch noch nicht.»

»Leiner und Lingen. Sind am selben Morgen gefallen. Brünning ist verrückt geworden. Hast du gehört, daß es auch Hollmann erwischt hat?»

»Nein.»

»Bergmann hat es gehört. Also, mach’s gut, Ernst! Und vergiß nicht, uns zu besuchen.« Mutzig humpelte davon. Er scheint

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eine gewisse Befriedigung darin zu finden, von den Toten zu reden, dachte Graeber. Vielleicht machte es sein eigenes Unglück kleiner. Er blickte ihm nach. Das Bein war hoch bis zum Oberschenkel amputiert. Mutzig war einmal der beste Läufer der Klasse gewesen. Graeber wußte nicht, ob er Mitleid oder Neid für ihn fühlen sollte. Mutzig hatte recht: es kam darauf an, was noch bevorstand.

Elisabeth hockte in einem weißen Bademantel auf dem Bett, als er eintrat. Sie hatte ein Tuch wie einen Turban um den Kopf gewickelt und saß schön und still und ganz für sich da, wie ein großer heller Vogel, der durchs Fenster hereingeflogen war und ausruhte, um wieder davonzufliegen.

»Ich habe das heiße Wasser für eine Woche verbraucht«, sagte sie. »Es war ein großer Luxus. Frau Lieser wird ein schönes Geschrei erheben.»

»Laß sie schreien. Sie wird es nicht entbehren. Echte Nationalsozialisten baden wenig. Sauberkeit ist ein jüdisches Laster.« Graeber ging zum Fenster und sah hinaus. Der Himmel war grau, und die Straße war still. Gegenüber stand ein haariger Mann in Hosenträgern an einem Fenster und gähnte. Aus einem anderen Fenster kamen die Töne eines Klaviers, und eine grelle Frauenstimme sang Skalen. Er starrte auf den ausgegrabenen Kellereingang und dachte an den sonderbaren kalten Schrecken, den er in der Straße mit dem Spiegelgeschäft gespürt hatte. Ihn fröstelte wieder. Was blieb? Irgend etwas sollte bleiben, dachte er, ein Anker, der einen hielt, damit man nicht verlorenginge und zurückkäme. Aber was? Elisabeth? Gehörte sie denn zu ihm? Er kannte sie erst so kurze Zeit und ging wieder weg für

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Jahre. Würde sie ihn nicht vergessen? Wie konnte er sie halten und sich in ihr?

Erdrehtesichum.»Elisabeth«,sagteer.»Wirsolltenheiraten.» »Heiraten? Warum denn das?»

»Weil es sinnlos ist. Weil wir uns erst ein paar Tage kennen, und weil ich in wenigen Tagen wieder fort muß; weil wir nicht wissen, ob wir zusammenbleiben wollen, und es in so kurzer Zeit auch gar nicht wissen können. Deshalb.« Sie sah ihn an. »Meinst du, weil wir allein und verzweifelt sind und nichts anderes haben?»

»Nein.« Sie schwieg.

»Nicht allein deshalb«, sagte er. »Warum dann?« Er sah sie an. Er sah sie atmen. Sie erschien ihm plötzlich sehr fremd. Ihre Brüste hoben und senkten sich, ihre Arme waren anders als seine, ihr Hände waren anders; ihre Gedanken, ihr Leben — sie würde ihn nicht verstehen, wie sollte sie es auch, er verstand ja selbst nicht klar, warum er es auf einmal wollte. »Wenn wir verheiratet sind, brauchst du keine Angst mehr vor Frau Lieser zu haben«, sagte er. »Als Frau eines Soldaten bist du geschützt.»

»Bin ich das?»

»Ja.« Graeber wurde verlegen unter ihrem Blick. »Zum mindesten hilft es etwas.»

»Das ist kein Grund. Ich werde mit Frau Lieser schon fertig. Heiraten! Wir haben doch nicht einmal Zeit dazu.»

»Warum nicht?» »ManbrauchtdazuPapiere,Genehmigungen,Ariernachweise,

Gesundheitsatteste und was weiß ich noch. Das dauert

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Wochen.« Wochen, dachte Graeber. Sie sagte das so leicht dahin. Wo bin ich dann? »Bei Soldaten ist das anders«, erklärte er. »Kriegstrauungen gehen schneller. In ein paar Tagen. Ich weiß das aus der Kaserne.»

»Bist du da auf den Gedanken gekommen?»

»Nein. Es ist mir erst heute morgen eingefallen. Aber in der Kaserne wird oft über so etwas gesprochen. Viele Soldaten heiraten im Urlaub. Warum auch nicht? Wenn ein Frontsoldat heiratet, hat seine Frau das Recht auf eine monatliche Rente, zweihundert Mark, glaube ich. Warum soll man das dem Staat schenken? Wenn man schon den Kopf hinhalten muß, warum soll man dann nicht wenigstens das nehmen, wozu man berechtigt ist? Du kannst es gebrauchen, und sonst behält es der Staat. Stimmt das nicht?»

»Wenn man es so ansieht, mag es stimmen.»

»Das meine ich auch«, sagte Graeber erleichtert. »Es gibt dann sogar noch ein Ehestandsdarlehen, ich glaube, es sind tausend Mark. Vielleicht brauchst du auch nicht mehr in deine Mantel fabrik zu gehen, wenn du verheiratet bist.»

»Doch. Das hat nichts damit zu schaffen. Was sollte ich sonst auch den ganzen Tag tun? Allein.»

»Ja.« Graeber fühlte sich einen Augenblick sehr hilflos. Was machen sie nur mit uns, dachte er. Wir sind jung und sollten glücklich sein und zusammenbleiben. Was gehen uns die Kriege unserer Eltern an? »Wir werden bald allein sein«, sagte er. »Aber wenn wir heiraten, sind wir es weniger.« Elisabeth schüttelte den Kopf. »Du willst nicht?« fragte er.

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»Wir wären nicht weniger allein«, sagte sie. »Wir wären es mehr.« Graeber hörte auf einmal wieder die Stimme der Sängerin von gegenüber. Sie hatte aufgehört, Skalen zu üben, und sang jetzt Oktaven. Sie klangen wie Schreie, die nur ein Echo als Antwort bekamen. »Es ist ja nicht unwiderruflich, wenn du das meinst«, sagte er. »Wir können uns doch immer wieder scheiden lassen, wenn wir wollen.»

»Wozu sollen wir dann heiraten?»

»Wozu sollen wir dem Staat etwas schenken?« Elisabeth stand auf. »Gestern warst du anders«, sagte sie. »Wieso war ich anders?« Sie lächelte flüchtig. »Laß uns nicht mehr darüber reden. Wir sind zusammen, das ist genug.»

»Du willst nicht?»

»Nein.« Er sah sie an. Etwas in ihr hatte sich geschlossen und von ihm zurückgezogen. »Verflucht«, sagte er. »Ich habe es so gut gemeint.« Elisabeth lächelte wieder. »Das ist es manchmal gerade. Man soll es nicht zu gut meinen. Haben wir noch etwas zu trinken?»

»Wir haben noch Slibowitz.» »Ist das der aus Polen?» »Ja.»

»Haben wir nicht etwas, was kein Beutegut ist?»

»Wir müssen noch eine Flasche Kümmel haben. Der kommt aus Deutschland.»

»Dann gib mir den.« Graeber ging in die Küche, um die Flasche zu holen. Er war ärgerlich auf sich selbst. Einen Moment stand er vor den Schüsseln und den Geschenken Bindings in

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