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Lehrskript

Strafrecht Allgemeiner Teil

Einführung und Überblick

Prof. Dr. Bernhard Hardtung

Prof. Dr. Holm Putzke, LL.M.

 

I

Gliederung

 

A. Die Aufgaben des Strafrechts und seine Unterscheidung von anderen

 

Rechtsgebieten ..............................................................................................................

1

I.Die Hauptaufgaben der Rechtsordnung: Der Schutz von Rechten und die

Gewährleistung der Erfüllung von Pflichten ........................................................

1

1. Rechte und Pflichten ......................................................................................

1

2.Der Schutz von Rechten und die Gewährleistung der Erfüllung von

 

 

Pflichten .........................................................................................................

2

 

 

a) Vor der Rechtsverletzung ..........................................................................

2

 

 

b) Nach der Rechtsverletzung .......................................................................

2

 

 

c) „Nach der Rechtsverletzung ist vor der Rechtsverletzung“......................

2

II.

Die Aufgaben speziell des Strafrechts ..................................................................

3

 

1.

Rechtsgüterschutz (insb. §§ 46 I 2, 47 I) .......................................................

3

 

2.

Schuldvergeltung (§ 46 I 1) ...........................................................................

4

B. Beschränkungen der Rechtsfindungsmethoden im Strafrecht: Der

 

Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 II GG, § 1)...........................................................

4

C. Sachlicher Überblick ....................................................................................................

4

I.

Die Systematisierung der Strafbarkeitsvoraussetzungen ......................................

4

 

1.

Vorüberlegungen ............................................................................................

4

2.Die Strafbarkeitsvoraussetzungen im üblichen „dreistufigen

 

Deliktsaufbau“ ...............................................................................................

6

II. Tatbestand und Rechtswidrigkeit: das strafbare Unrecht......................................

7

1.

Das Zusammenspiel von objektivem und subjektivem Unrecht....................

7

2.

Das Zusammenspiel von Tatbestand und Rechtswidrigkeit ........................

10

III. Welche Arten von Straftaten gibt es?..................................................................

10

1.

Die geschützten Rechtsgüter........................................................................

10

2.

Die Intensität des Angriffs auf das Rechtsgut..............................................

11

3.

Die Arten des Angriffs auf ein Rechtsgut ....................................................

11

 

a) Das vorsätzliche vollendete Handlungsdelikt .........................................

11

 

b) Das fahrlässige vollendete Handlungsdelikt ...........................................

12

 

c) Das Teilvorsatzdelikt (die „Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination“) ......

12

 

d) Das versuchte Handlungsdelikt...............................................................

12

 

e) Das Unternehmensdelikt .........................................................................

13

 

f) Das Unterlassungsdelikt..........................................................................

13

 

g) Die Handlungs-Unterlassungs-Kombination ..........................................

14

 

h) Täterschaft und Teilnahme ......................................................................

14

IV. Die Rechtsfolgen einer Straftat...........................................................................

15

1.

Freiheitsund Geldstrafe..............................................................................

15

 

a) Die Strafrahmen ......................................................................................

15

 

b) Die Strafrahmenverschiebungen .............................................................

15

 

 

II

 

c) Die Konkurrenzen ...................................................................................

16

 

aa) Gesetzeskonkurrenz .........................................................................

16

 

bb) Tateinheit und Tatmehrheit (auch: Idealund Realkonkurrenz) ......

16

 

d) Die konkrete Strafzumessung (§ 46).......................................................

17

 

2. Weitere Sanktionen ......................................................................................

17

V.

Die Verfolgbarkeit einer Straftat .........................................................................

17

VI.

Besonderheiten bei jungen Straftätern ................................................................

18

Hardtung/Putzke: Lehrskript Strafrecht AT, 1. Kapitel: Einführung und Überblick

1

A.Die Aufgaben des Strafrechts und seine Unterscheidung von anderen Rechtsgebieten

Fall 1: Nach einer Feier setzt A sich ans Steuer seines Autos, um nach Hause zu fahren, 1 obwohl er weiß, dass er betrunken ist. Unterwegs gerät er infolge seiner Trunkenheit aus Versehen auf die Gegenfahrbahn und stößt dort mit einem entgegenkommenden Fahrzeug zusammen. Dessen Fahrer F wird schwer verletzt. Später wird festgestellt, dass A zur Tatzeit eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1,5 ‰ hatte.

I.Die Hauptaufgaben der Rechtsordnung: Der Schutz von Rechten und die Gewährleistung der Erfüllung von Pflichten

1.Rechte und Pflichten

Unsere Gemeinschaft hat sich eine Rechtsordnung gegeben, in der sich möglichst für alle 2 Interessenkonflikte eine Lösung findet, sodass wir einigermaßen ruhig und friedlich leben können. Unsere Rechtsordnung geht dabei „technisch“ so vor, dass sie uns Menschen „Rechte“ gibt und „Pflichten“ auferlegt. Mit dem Recht des einen geht immer die Pflicht der anderen einher, das Recht des einen zu respektieren; s. dazu Art. 2 I GG: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt ...“ Und umgekehrt: Pflichten dienen immer dazu, irgendein Recht zu schützen (das ist allerdings manchmal nicht so leicht zu erkennen). – Beispiele:

„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ (Art. 2 II 1 GG). Alle anderen haben die Pflicht, Leben und Leib eines jeden zu schonen (lesen Sie z. B.

§ 823 I BGB und §§ 212, 222, 223, 2291).

Der Eigentümer einer Sache hat das Recht, „mit der Sache nach Belieben zu verfahren und andere von jeder Einwirkung auszuschließen (§ 903 S. 1 BGB). Alle anderen haben die Pflicht, das Eigentum dieses einen in Ruhe zu lassen (lesen Sie z. B. § 823 I BGB und § 242 I).

Der Käufer einer Sache hat das Recht, das Eigentum und den Besitz an der gekauften Sache zu bekommen. Ein anderer, nämlich der Verkäufer, ist „verpflichtet, dem Käufer die Sache zu übergeben und das Eigentum an der Sache zu verschaffen“ (§ 433 I 1 BGB). Dafür hat der Verkäufer das Recht, vom Käufer Geld zu bekommen, und der „Käufer ist verpflichtet, dem Verkäufer den vereinbarten Kaufpreis zu zahlen“ (§ 433 II BGB).

„Jedermann ist verpflichtet, bei Maßnahmen, mit denen Einwirkungen auf ein Gewässer verbunden sein können, die ... erforderliche Sorgfalt anzuwenden, um eine Verunreini-

gung des Wassers ... zu verhüten ...“ (§ 1 II Wasserhaushaltsgesetz – WHG, s. auch § 324). Mit dieser Pflicht wird nicht das Wasser „für sich selber“ geschützt (das Wasser hat keine Rechte und auch keine Pflichten!), sondern unser aller Recht auf sauberes Wasser (vgl. Art. 20a GG; danach schützt der Staat die Umwelt „auch in Verantwortung für die künftigen Generationen“, also unausgesprochen zunächst einmal für uns jetzt Lebenden).

1

Paragrafen ohne Zusatz sind solche des StGB.

 

Stand: 17. Juli 2012

Hardtung/Putzke: Lehrskript Strafrecht AT, 1. Kapitel: Einführung und Überblick

2

2.Der Schutz von Rechten und die Gewährleistung der Erfüllung von Pflichten

Für das friedliche und ruhige Zusammenleben einer Gemeinschaft reicht es aber nicht, 3 Rechte zu geben und Pflichten aufzuerlegen. Denn die Mitglieder einer Gemeinschaft neigen all zu oft dazu, ihre Pflicht zur Respektierung der Rechte anderer nicht zu erfüllen,

m. a. W.: die Rechte anderer zu verletzen. Also müssen die Rechte auch noch geschützt und die Erfüllung der Pflichten gewährleistet werden. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten.

a)Vor der Rechtsverletzung

Ein Recht schützt man am besten, indem man verhindert, dass es überhaupt verletzt wird; 4 das nennt man „Prävention“ (wörtlich: „das Zuvorkommen“, also „Vorbeugung“). Beispie-

le:

Die Polizei ist zuständig für die „Gefahrenabwehr“ (z. B. § 2 I des mecklenburg-vor- pommerschen Sicherheitsund Ordnungsgesetzes – SOG M-V), d. h. sie „hat die Aufgabe, von der Allgemeinheit oder dem einzelnen Gefahren abzuwehren, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird“ (§ 1 I SOG M-V).

Wenn jemand aus seinem Haus nachts so laute Musik herausschallen lässt, dass sein Nachbar nicht mehr schlafen kann, dann kann der Nachbar „auf Unterlassung klagen“

(§ 1004 I 2 BGB).

Vertiefung: Die Ruhestörung ist doch sowieso schon verboten (Umkehrschluss aus § 906 I BGB; s. auch § 117 I OWiG). Hat die Unterlassungsklage also überhaupt einen Sinn? Ja: Erstens ist oft nicht klar, ob die Musik wirklich schon eine verbotene Ruhestörung ist (mäßige Beeinträchtigungen sind nämlich erlaubt, s. § 906 I BGB und § 117 I OWiG). Dann dient die Unterlassungsklage dazu, dem Lärmverursacher deutlich zu machen, dass er im Unrecht ist; das genügt oft schon, um den Interessenkonflikt zu beenden. Zweitens drohen bei Verstoß gegen das Unterlassungsurteil besondere Konsequenzen, nämlich Ordnungsgeld oder Ordnungshaft (s. § 890 I ZPO).

Zur Prävention gehört auch, Handlungen allgemein zu verbieten, weil sie gefährlich sind. Speziell zu Fall 1: § 316 I verbietet, im Zustand der Fahruntüchtigkeit im Straßenverkehr ein Fahrzeug zu führen. So wird die Pflicht „Verletze niemandes Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ abgesichert durch die zeitlich vorgeschaltete Pflicht, schon gar nicht betrunken Auto zu fahren, damit die gefährlichen Situationen gar nicht erst entstehen.

b)Nach der Rechtsverletzung

Aber auch nachdem ein Recht verletzt worden ist, kann man es noch schützen. Man kann

5

nämlich demjenigen, der die Rechtsverletzung begangen hat, die Pflicht auferlegen, den

 

entstandenen Schaden zu beseitigen; das nennt man meist „Schadenersatz“ (z. B. in § 823 I

 

BGB), aber auch „Beseitigung“ (z. B. in § 12 BGB, § 1004 I 1 BGB), „Entschädigung“

 

(etwa

in § 253 II BGB) oder „Wiedergutmachung“ (beispielsweise in § 153a I 2 Nr. 1

 

StPO).

 

Im Fall 1 muss A dem F den entstandenen Schaden ersetzen (§ 823 I BGB), d. h. er muss

6

„den Zustand herstellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatze verpflichtende Um-

 

stand nicht eingetreten wäre“ (§ 249 I BGB). Das ist echte Schadensbeseitigung Wenn dem

 

F beim Unfall der rechte Arm gebrochen wurde, dann muss A den Arm in den heilen Zu-

 

stand zurückversetzen.

 

c)

„Nach der Rechtsverletzung ist vor der Rechtsverletzung“

 

Es gibt noch etwas Kompliziertes: Aus Anlass einer Rechtsverletzung kann man demjeni-

7

gen,

der die Rechtsverletzung begangen hat, irgendein Übel zufügen; das nennt man

 

Stand: 17. Juli 2012

Hardtung/Putzke: Lehrskript Strafrecht AT, 1. Kapitel: Einführung und Überblick

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„Sanktion“. Aber was soll das? Es soll für die Zukunft wirken (also: präventiv). Nämlich erstens beim Rechtsverletzer selber (sog. Spezialprävention): Zum einen soll die Sanktion so unangenehm sein, dass die Aussicht auf eine weitere Sanktion ihn davon abschreckt, künftig wieder das Recht zu verletzen (sog. negative Spezialprävention); außerdem kann die Sanktion so klug gewählt sein, dass sie ihn zu einem besseren Menschen macht, der die Rechte der anderen aus eigener Überzeugung respektiert (sog. positive Spezialprävention). Zweitens soll die Sanktionierung des Rechtsverletzers auch allen anderen Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft eine Lehre sein (sog. Generalprävention); die Rechtsordnung sagt damit nämlich: „Seht her! So übel ergeht es jedem, der die Rechte anderer verletzt. Das soll euch alle abschrecken, die Rechte anderer zu verletzen (sog. negative Generalprävention). Aber es soll zugleich euer Vertrauen darin stärken, dass eure Rechte geschützt werden (sog. positive Generalprävention).“ – Beispiele für Sanktionen sind:

Im Strafrecht: Freiheitsstrafe (§§ 38 f.), Geldstrafe (§ 40), Maßregeln der Besserung und Sicherung (s. § 61)

Im Ordnungswidrigkeitenrecht: Geldbuße (s. § 1 Ordnungswidrigkeitengesetz – OWiG)

Im Disziplinarrecht der Beamten: Verweis, Gehaltskürzung, Entfernung aus dem Dienst (s. § 5 Bundesdisziplinarordnung – BDO)

Im Fall 1 wird A bestraft wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 229) und Gefährdung des 8 Straßenverkehrs (§ 315c I Nr. 1 Buchst. a, III Nr. 1). Außerdem verliert er seine Fahrerlaubnis (§ 69 I 1); das ist keine „Strafe“, sondern eine Sanktion zum Zweck der Prävention. Weil die Trunkenheitsfahrt auch eine Ordnungswidrigkeit ist, kommt an sich auch eine Geldbuße in Betracht (§ 24a I und IV OWiG). Das bleibt dem A jedoch erspart, weil seine Trunkenheitsfahrt gleichzeitig eine Straftat war und er schon deswegen bestraft wird (lesen Sie § 21 OWiG), und zwar härter. Falls A ein Beamter ist (der Fall sagt dazu nichts), kommen neben der Bestrafung auch noch disziplinarrechtliche Maßnahmen gegen ihn in Betracht.

II.Die Aufgaben speziell des Strafrechts

1.

Rechtsgüterschutz (insb. §§ 46 I 2, 47 I)

 

Auch das Strafrecht hat die Aufgabe, Rechte zu schützen. Im Strafrecht hat sich dafür die

9

Bezeichnung „Rechtsgüterschutz“ eingebürgert.

 

Zur Terminologie: Als ein „Gut“ bezeichnet man alles, woran jemand ein Interesse hat. Das „Gut“ wird zu

10

einem „Rechtsgut“, wenn die Rechtsordnung es als schützenswert anerkennt. Beispiel: Unsere Gesundheit ist

 

uns ein hohes Gut; Art. 2 II 1 GG macht sie zu einem Rechtsgut. Falschgeld hingegen mag für viele Men-

 

schen ein wertvolles Gut sein; aber unsere Rechtsordnung erkennt Falschgeld nicht als schützenswert an (im

 

Gegenteil, s. § 146), deshalb ist es kein „Rechtsgut“.

 

Das Strafrecht greift erst ein, wenn eine Rechtsverletzung eingetreten ist, und will aus die-

11

sem Anlass vor künftigen Rechtsverletzungen schützen. Dafür nutzt es all die Möglichkei-

 

ten, die oben bei Rn 7 geschildert worden sind:

 

Die Spezialprävention findet sich in § 46 I 2.

12

Die positive Spezialprävention steht in § 2 S. 1 StVollzG und in §§ 61 ff., soweit es dort um die „Besserung“ des Straftäters geht.

Die negative Spezialprävention steht in § 2 S. 2 StVollzG und in §§ 61 ff., soweit es dort um die „Sicherung“ des Straftäters geht.

Stand: 17. Juli 2012

Hardtung/Putzke: Lehrskript Strafrecht AT, 1. Kapitel: Einführung und Überblick

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Die Generalprävention findet sich z. B. in § 47 I in der Formulierung „Verteidigung der 13 Rechtsordnung“. Eine Unterscheidung zwischen positiver und negativer Generalpräven-

tion lässt sich dem Strafrecht nicht entnehmen.

2.Schuldvergeltung (§ 46 I 1)

Wenn ein Mitglied der Gemeinschaft gegen seine Pflichten verstoßen und eine Rechtsver- 14 letzung begangen hat, sind die anderen meist böse auf ihn und verspüren den Wunsch nach „Rache“ oder „Vergeltung“, und zwar um so mehr, je größer die „Schuld“ ist, die der „Täter“, also der Rechtsverletzer, auf sich geladen hat. Unsere Rechtsordnung hat dieses Vergeltungsinteresse anerkannt und es in § 46 I 1 zu einem Recht der Gemeinschaft gegen den Rechtsverletzer erklärt.

B.Beschränkungen der Rechtsfindungsmethoden im Strafrecht: Der Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 II GG, § 1)

Fall 2: A und B stapfen mit ihren Rodelschlitten stundenlang bergauf durch den winterli-

15

chen Wald, um eine gerühmte lange Abfahrt zu machen. Oben merkt A, dass sein

 

Rodel kaputt ist. Er schnappt sich schnell den des B und saust bergab. B muss

 

durch den Schnee zurückmarschieren, stapft geradewegs zur Polizeistation und

 

stellt erbost Strafantrag gegen A wegen unbefugten Gebrauchs eines Fahrzeugs.

 

§ 248b stellt nur den Gebrauch von Kraftfahrzeugen und Fahrrädern unter Strafe. Man

16

könnte auf die Idee kommen zu argumentieren, im Fall 2 sei der Gebrauch des Schlittens mindestens genauso schlimm gewesen wie in anderen Fällen der Gebrauch eines Fahrrades, sogar noch schlimmer, und deshalb verdiene A auch genau dieselbe Strafe, als wenn er das Fahrrad eines anderen gebraucht hätte. Diese Überlegung wäre in der Sache auch durchaus richtig: A verdient wirklich dieselbe Strafe. Und mit den „normalen“ juristischen Methoden der Rechtsfindung könnte man ihn auch bestrafen. Man würde nämlich § 248b „analog“ („entsprechend“) anwenden. Im Strafrecht ist dieser Weg zur Bestrafung aber versperrt, um die Angeklagten davor zu schützen, dass die Richter diese Rechtsfindungsmethode missbrauchen: Art. 103 II GG (und der wortgleiche § 1) lassen eine Bestrafung nur zu, wenn „die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“. Die Strafbarkeit eines Verhaltens muss sich also durch Auslegung des Rechts (hier also der Strafvorschriften) ergeben, nicht durch Rechtsfortbildung. Deshalb kann A nicht bestraft werden: Die Strafbarkeit des Gebrauchs fremder Rodelschlitten ist nicht gesetzlich angeordnet.

C.Sachlicher Überblick

I.Die Systematisierung der Strafbarkeitsvoraussetzungen

1.

Vorüberlegungen

 

Fall 3: Herr H fährt völlig korrekt mit seinem Auto.

17

a)Nichts passiert.

b)Direkt vor ihm auf der Straße öffnet sich ein Kanaldeckel und X klettert heraus. Trotz sofortiger Vollbremsung erfasst Hs Wagen den X und verletzt ihn schwer.

Wenn wir überlegen, was wohl dafür nötig ist, um einen Menschen zu bestrafen, dann wird

18

uns als erstes einfallen, dass er sich falsch verhalten, in der Sprache des Rechts: sich

 

Stand: 17. Juli 2012

Hardtung/Putzke: Lehrskript Strafrecht AT, 1. Kapitel: Einführung und Überblick

5

 

rechtswidrig verhalten, Unrecht begangen2 haben muss. Das hat z. B. Herr H im Fall 3

 

nicht getan, auch nicht in Var. b: Dort ist zwar ein Mensch zu Schaden gekommen, aber das

 

lag nicht an einem Fehlverhalten des H.

 

 

Fall 4: Das einjährige Kleinkind K liegt in seinem Bettchen und wird von seiner Mutter

19

M aufs Zärtlichste zur Nacht gebettet. K ist aber noch aufgekratzt und in lustiger

 

Laune. Als M sich voller Liebe über ihn beugt, kneift er ihr lachend fest in die

 

Nase. Es fließt Blut.

 

 

Ein rechtswidriges Verhalten kann viele verschiedene rechtliche Konsequenzen haben. Für

20

die bekanntesten rechtlichen Konsequenzen, nämlich Schadenersatz (§ 823 I BGB) und

 

Strafe, genügt ein rechtswidriges Verhalten aber noch nicht. Das Fehlverhalten muss dem

 

Handelnden auch noch persönlich vorwerfbar sein, in der Sprache des Strafrechts: schuld-

 

haft sein. Damit ist gemeint, dass derjenige, der sich rechtswidrig verhalten hat, auch in der

 

Lage gewesen sein muss, das Unrecht seines Verhaltens zu erkennen und nach dieser Er-

 

kenntnis zu handeln (lesen Sie § 20!). Im Fall 4 z. B. hat der kleine K sich gewiss falsch

 

verhalten: Man darf anderen Leuten nicht so feste in die Nase kneifen, dass davon ihre

 

körperliche Unversehrtheit beeinträchtigt wird. Aber wir wissen, dass einjährige Menschen

 

das noch nicht begreifen; sie können noch nicht verstehen, dass man anderen Menschen

 

weh tun kann. Dem K fehlte also die Einsicht, Unrecht zu tun, und damit die Schuld (s.

 

§ 19).

 

 

Fall 5: Autofahrer A fährt über eine menschenleere Kreuzung, obwohl er an der Ampel

21

das Rotlicht sieht.

 

 

Ein schuldhaftes rechtswidriges Verhalten kann viele verschiedene Konsequenzen haben,

22

z. B. Schadenersatz (§ 823 I BGB) oder Geldbuße (§ 1 OWiG). Aber für die Strafbarkeit

 

genügt es immer noch nicht. Das Verhalten muss auch noch mit Strafe bedroht sein; es

 

muss in einem Straftatbestand beschrieben sein (Art. 103 II GG, s. dazu schon oben Fall 2

 

bei Rn 15 ff.). Im Fall 5 hat A rechtswidrig und schuldhaft gehandelt, denn man darf nicht

 

bei Rotlicht über eine Kreuzung fahren (§ 37 II Nr. 1 Unterabs. 7 Straßenverkehrsordnung

 

– StVO), und A wusste das auch. Trotzdem kann er nicht bestraft werden, denn sein Ver-

 

halten ist in keinem Straftatbestand beschrieben (finden Sie selber heraus, warum § 315c I

 

Nr. 2 Buchst. a nicht erfüllt ist!). – Sein Verhalten ist allerdings eine Ordnungswidrigkeit

 

und kann also mit einer Geldbuße geahndet werden.3

 

 

Das Gesagte ist eine rechtstheoretische Aufzählung der Strafbarkeitsvoraussetzungen. Sie

23

beginnt bei den allgemeineren Voraussetzungen und endet bei den speziellen. Weil man mit

 

jeder zusätzlichen Voraussetzung die Menge der erfassten Fälle verringert, lassen sich die

 

von den jeweiligen Voraussetzungen erfassten Fälle in Teilmengen darstellen:

 

 

2„Rechtswidrigkeit“ und „Unrecht“ bedeuteten im Grunde dasselbe. Ein Unterschied besteht nur darin: Beispielsweise ein Mord und eine Sachbeschädigung sind gleichermaßen „rechtswidrig“ (seltener auch: „widerrechtlich“); aber das „Unrecht“ des Mordes ist höher als das der Sachbeschädigung.

3§ 24 StVG i. V. m. § 6 I Nr. 17 StVG und §§ 37 II Nr. 1 Unterabs. 7, 49 III Nr. 2 StVO.

Stand: 17. Juli 2012

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6

zusätzlich strafbar

zusätzlich schuldhaft

rechtswidriges Verhalten

menschliches Verhalten

Abbildung 1: Die Voraussetzungen der Strafbarkeit

24

2.Die Strafbarkeitsvoraussetzungen im üblichen „dreistufigen Deliktsaufbau“

Wenn man die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens prüft, könnte man so wie unter 1. 25 geschildert vorgehen. Das wäre aber sehr umständlich, denn man würde häufig schwierige Überlegungen zu Rechtswidrigkeit und Schuld anstellen, um am Ende festzustellen, dass

das Verhalten zwar rechtswidrig und schuldhaft war, aber in keinem Straftatbestand beschrieben ist. Üblich ist deshalb ein anderer Prüfungsaufbau: Man untersucht zuerst, ob das fragliche Verhalten überhaupt in einem Straftatbestand beschrieben ist. Falls ja, fragt man zweitens, ob es auch rechtswidrig ist. Falls ja, fragt man drittens, ob es auch schuldhaft ist. Die Reihenfolge des zweiten und des dritten Schrittes kann man nicht umkehren: Weil Schuld die Fähigkeit ist, das Unrecht des Verhaltens einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln (s. Rn 21 und § 20), kann man die Schuld nicht bejahen, bevor nicht das Unrecht bejaht ist.

Bei einigen Straftaten gibt es neben den Tatbestands-, Rechtswidrigkeitsund Schuldvo-

26

raussetzungen noch weitere Strafbarkeitsvoraussetzungen. Weil es bei den meisten Strafta-

 

ten keine gibt, zählt man sie im Deliktsaufbau nicht mit. Aber machen Sie sich klar, dass

 

der „dreistufige“ Deliktsaufbau wegen dieser sonstigen Strafbarkeitsvoraussetzungen in

 

Wahrheit ein (mindestens) „vierstufiger“ ist.

 

Fall 6: T und O geraten auf einer Fete miteinander in Streit. T gibt dem O einen Kinnha-

27

ken, O geht betäubt zu Boden.

 

Fall 7: Wie Fall 6. Aber T tut das, weil er nur so verhindern kann, dass O ihm eine volle

28

Flasche „Havana Club“ auf den Kopf schlägt.

 

Fall 8: Wie Fall 6. Aber T tut das, weil er so betrunken ist, dass er sich nicht mehr be-

29

herrschen kann.

 

Stand: 17. Juli 2012

Hardtung/Putzke: Lehrskript Strafrecht AT, 1. Kapitel: Einführung und Überblick

7

 

Tatbestand

 

 

 

T hat in Fall 6, Fall 7 und Fall 8 den Tatbestand der Körperverletzung (§ 223 I) verwirk-

30

 

licht.

 

 

Rechtswidrigkeit

 

 

 

T hat im Fall 7 aber in Notwehr (§ 32) und deshalb nicht rechtswidrig gehandelt.

 

31

Weitere Beispiele für Rechtfertigungsgründe: § 34; Einwilligung; behördliche Genehmigung; § 127 StPO.

Schuld

T hat im Fall 8 tatbestandlich und rechtswidrig gehandelt, aber gemäß § 20 ohne 32 Schuld, weil er wegen seines Alkoholkonsums unfähig war, nach seiner Einsicht in das Unrecht der Tat zu handeln.

Weitere Beispiele für das Fehlen der Schuld: §§ 17, 19, 33, 35.

Sonstige Strafbarkeitsvoraussetzungen

Im Fall 8 kann T zwar nicht aus § 223 bestraft werden, wohl aber aus § 323a I. Dort ge- 33 hört zum „Tatbestand“ nur, dass jemand sich „vorsätzlich oder fahrlässig ... in einen Rausch versetzt“. Es genügt aber nicht für die Strafbarkeit, wenn man sich rechtswidrig

und schuldhaft in einen Rausch versetzt. Hinzukommen muss, dass man im Rauschzustand „eine rechtswidrige Tat begeht“ (im Fall 8 ist das die rechtswidrige Körperverletzung); das ist eine „sonstige“ Strafbarkeitsvoraussetzung.

II.Tatbestand und Rechtswidrigkeit: das strafbare Unrecht

Tatbestand und Rechtswidrigkeit machen gemeinsam das „strafbare Unrecht“ aus; meist 34 spricht man verkürzt einfach vom „Unrecht“. Hierzu muss man sich vor allem zweierlei klarmachen. Erstens: Das Unrecht kann sich aus verschiedenen Bestandteilen zusammensetzen (sogleich unter 1). Zweitens: Das Zusammenspiel von Tatbestand und Rechtswidrigkeit ist der Idee nach recht einfach, in seiner Tiefe aber am Anfang schwer zu verstehen (später unter 2).

1.Das Zusammenspiel von objektivem und subjektivem Unrecht

Unser Strafrecht erklärt ein Verhalten nur dann für strafbares Unrecht, wenn in dem Verhal- 35 ten irgendetwas Schlechtes zu finden ist, in der Sprache des Strafrechts: ein „Unwert“. Un-

ser Strafrecht lässt aber nicht gleich jeden Unwert für die Strafbarkeit genügen. Man muss die Strafvorschriften lesen, um herauszufinden, ob irgendein Unwert vom Strafrecht zu einem strafrechtlich relevanten Unwert erklärt worden ist. Zum Beispiel stellen zu stark parfümierte Menschen in der Straßenbahn einen Unwert dar, aber gewiss keinen strafbaren.

Es gibt verschiedene Arten von strafrechtlich erfasstem Unwert:

Erfolgsunwert

36

 

Es ist ein Erfolg eingetreten, den das Strafrecht missbilligt. Insbesondere ist ein Rechts-

 

 

gut zu Schaden gekommen oder zumindest in die Gefahr einer Schädigung geraten: Ein

 

 

Mensch ist tot (§ 212), eine Sache ist kaputt (§ 303), ein Verkehrsunfall mit Personen-

 

 

schaden ist nur mit Glück ausgeblieben (§ 315c) usw.

 

Verhaltensunwert

37

 

Der Täter hat ein Verhalten an den Tag gelegt, das das Strafrecht missbilligt. Er hat sich

 

 

„pflichtwidrig“, „sorgfaltswidrig“, „fahrlässig“ verhalten, indem er unerlaubt die Gefahr

 

 

geschaffen hat, dass ein Erfolgsunwert eintritt: Er hat auf einen anderen Menschen ge-

 

Stand: 17. Juli 2012

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