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Lew Tolstoi. Krieg und Frieden.rtf
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In diesem Augenblick wurde Helene durch eine Gesellschafterin gemeldet, Seine Hoheit sei im Saal und wünsche sie zu sehen.

»Nein, sagen Sie ihm, ich wolle ihn nicht sehen, ich sei ihm böse, weil er mir nicht Wort gehalten hat.«

»Gräfin, für jede Sünde gibt es Gnade«, sagte der junge Mann mit langem Gesicht und langer Nase, indem er eintrat.

Die alte Frau stand ehrerbietig auf und setzte sich wieder. Der Prinz achtete nicht im geringsten auf sie.

Die Fürstin nickte ihrer Tochter zu und schwebte zur Tür.

»Nein, sie hat recht«, dachte die alte Fürstin, deren Überzeugungen vor dem Erscheinen Seiner Hoheit zusammenfielen, »sie hat recht. Aber wie kam es, daß wir in unserer ehrbaren Jugend das nicht gekannt haben? Und das ist doch so einfach«, dachte die alte Fürstin, indem sie in den Wagen stieg.

Anfangs August war die Angelegenheit Helenes vollkommen entschieden, und sie schrieb ihrem Mann, der sie sehr liebte, wie sie glaubte, einen Brief, in welchem sie ihm von ihrer Absicht, Herrn N. N. zu heiraten, sowie von ihrem Übertritt zur alleinseligmachenden Religion Mitteilung machte und ihn bat, alle die Scheidung unumgänglichen Förmlichkeiten zu erfüllen, über welche ihm der Überbringer dieses Briefes berichten werde.

»Zugleich bitte ich Gott, Sie, mein Freund, unter seinen heiligen, starken Schutz zu nehmen.

Ihre Freundin Helene.«

Dieser Brief wurde in das Haus Peters gebracht, während er sich auf dem Schlachtfelde von Borodino befand.

183

Zum zweitenmal schon am Ende der Schlacht floh Peter mit einem Haufen Soldaten aus der Batterie Rajewsky die Anhöhe nach Knjaskowo hinab, an dem Verbandplatz vorüber, wo er Blut sah, Geschrei, und Stöhnen hörte, und rasch vorüberschreitend, sich einer Gruppe Soldaten anschloß. Er wünschte nur, möglichst schnell den entsetzlichen Eindrücken dieses Tages zu entfliehen und ruhig in seinem Zimmer in seinem Bett einzuschlafen. Nachdem Peter drei Kilometer auf der großen Straße nach Moschaisk weitergegangen war, setzte er sich am Rande derselben nieder und betrachtete, auf den Ellbogen gestützt, die in der Dämmerung an ihm vorüberziehenden Schatten. Er erinnerte sich nicht, wie lange Zeit er dort zubrachte. Mitten in der Nacht ließen sich drei Soldaten bei ihm nieder, sammelten Zweige und zündeten ein Feuer an. Dann hängten sie einen kleinen Kessel darüber und warfen Brotstücke und Salz hinein. Peter erhob sich beim Geruch der Suppe und seufzte. Die drei Soldaten aßen, ohne auf ihn zu achten, und sprachen untereinander.

»Zu welchen gehörst du?« fragte plötzlich Peter einer der Soldaten.

»Ich?« fragte Peter. »Ich bin Offizier vom Landsturm, aber mein Bataillon ist nicht hier, es ist nach dem Schlachtfeld gegangen, und ich habe meine Leute verloren.«

»Nun, iß doch, wenn du willst, ein Süppchen«, sagte der Soldat und reichte Peter seinen hölzernen Löffel, nachdem er ihn sorgfältig abgeleckt hatte. Peter setzte sich ans Feuer und begann die Suppe zu essen, die in dem Kessel gekocht worden war und die ihm schmackhafter erschien als alles, was er jemals gegessen hatte. Während er gierig aß, betrachteten ihn die Soldaten schweigend.

»Wohin gehst du, sag einmal?« fragte wieder einer der Soldaten.

»Ich gehe nach Moschaisk.«

»Du bist wahrscheinlich ein Herr?«

»Ja.«

»Und der Name?«

»Peter Kirilowitsch.«

»Nun, Peter Kirilowitsch, komm mit, wir werden dich führen!«

In vollständiger Dunkelheit gingen die Soldaten mit Peter nach Moschaisk zu. Schon krähte der Hahn, als sie Moschaisk erreichten und einen steilen Berg vor der Stadt hinanstiegen. Peter hatte ganz vergessen, daß sein Gasthof unten am Berg lag und daß er schon daran vorübergegangen war. Er würde es nicht bemerkt haben in seinem verwirrten Zustand, wenn er nicht auf der halben Höhe des Berges auf seinen Stallmeister gestoßen wäre, der ihn in der Stadt gesucht hatte und jetzt in seinen Gasthof zurückkehrte. Er hatte Peter in der Dunkelheit an seinem weißen Hut erkannt.

»Erlaucht, wohin wollen Sie?« sagte er, »wir waren schon in Verzweiflung. Und Sie kommen zu Fuß?«

»Ach ja«, sagte Peter.

»Nun, hast du die Deinigen gefunden?« fragte einer von Peters Begleitern.

»Nun, lebe wohl, Peter Kirilowitsch!« sagten die anderen Stimmen.

»Lebt wohl!« erwiderte Peter und ging mit seinem Stallmeister nach dem Gasthaus.

»Ich sollte ihnen etwas geben«, dachte Peter, in die Tasche greifend, »doch nein, es ist nicht nötig«, sagte ihm eine andere Stimme.

In den Zimmern des Gasthauses war kein Raum, alle waren besetzt. Peter ging in den Hof, legte sich in seine Kutsche und schlief sogleich ein.

184

AM 30. August kehrte Peter nach Moskau zurück; Schon an der äußersten Vorstadt begegnete ihm ein Adjutant des Grafen Rostoptschin.

»Wir suchen Sie überall!« sagte der Adjutant. »Der Graf muß Sie durchaus sprechen und bittet Sie, sogleich zu ihm zu fahren, wegen einer wichtigen Angelegenheit.«

Ohne nach Hause zu fahren, nahm Peter eine Droschke und fuhr zum Oberkommandierenden.

Graf Rostoptschin war an diesem Morgen eben in der Stadt angekommen aus seiner Villa vor der Stadt auf den Sperlingsbergen. Das Wohnzimmer des Grafen war voll von Beamten, welche auf sein Verlangen erschienen waren oder Befehle erwarteten. Die Reitergenerale Wassiltschikow und Platow hatten den Grafen schon gesprochen und ihm erklärt, es sei unmöglich, Moskau zu verteidigen, und es werde geräumt werden. Diese Nachricht wurde zwar den Einwohnern verheimlicht, aber die Beamten wußten, daß Moskau in die Hände des Feindes fallen werde, und alle kamen zum Gouverneur, um zu fragen, wie sie sich verhalten sollten. Während Peter in das Empfangszimmer eintrat, kam ein Kurier, der von der Armee gekommen war, vom Grafen heraus und antwortete auf die Fragen, die von allen Seiten an ihn gerichtet wurden, nur mit einem hoffnungslosen Achselzucken.

Peter betrachtete mit müden Augen die verschiedenen alten und jungen, vornehmen und niedrigen Beamten im Vorzimmer. Alle schienen unzufrieden und unruhig zu sein. Sie begrüßten sich mit Peter und sprachen dann weiter unter sich.

»Hier, das schreibt er!« sagte ein Beamter, auf ein bedrucktes Papier deutend, das er in den Händen hielt.

»Das ist etwas anderes, für das Volk ist das notwendig!« erwiderte ein anderer.

»Was ist das?« fragte Peter.

»Eine neue Bekanntmachung!«

Peter nahm sie und las:

»Der Durchlauchtigste Fürst hat Moschaisk passiert, um sich schneller mit den Truppen zu vereinigen, die zu ihm stoßen. Er hat eine starke Stellung, welche der Feind nicht sogleich anzugreifen wagt. Von hier sind ihm achtundvierzig Kanonen mit Munition zugesandt worden, und der Durchlauchtigste sagt, er werde Moskau bis zum letzten Blutstropfen verteidigen und sich noch in den Straßen schlagen. Kümmert euch nicht darum, daß die Behörden ihre Tätigkeit eingestellt haben, wir werden mit den Bösewichtern allein fertig werden. Wenn es dazu kommt, so brauche ich tüchtige, junge Leute. Ich bin jetzt gesund, mir hat ein Auge geschmerzt, aber jetzt sehe ich auf beiden. Es ist gut mit dem Beil, nicht übel ist auch der Spieß, aber das beste ist die dreizinkige Gabel. Ein Franzose ist nicht schwerer als eine Getreidegarbe! Morgen nach der Messe ...«

»Aber mir hat ein Offizier gesagt«, bemerkte Peter, »daß es ganz unmöglich sei, sich in der Stadt zu schlagen, und daß die Stellung ...«

»Nun ja, davon sprechen wir eben!« sagte der eine Beamte.

»Aber was bedeutet das: ›Mir hat ein Auge geschmerzt, jetzt aber sehe ich auf beiden?‹«

»Der Graf hatte ein Gerstenkorn am Auge!« erwiderte der Adjutant lachend, »und er wurde sehr unruhig, als man ihm sagte, das Volk sei gekommen, um zu fragen, was mit ihm sei. Nun, wie ist's mit Ihnen, Graf?« fragte plötzlich der Adjutant Peter lächelnd, »wir haben gehört, Sie haben häusliche Sorgen ... Die Gräfin ... Ihre Frau Gemahlin ...«

»Ich habe nichts davon gehört«, bemerkte Peter gleichmütig. »Was haben Sie gehört?«

»Nein, wissen Sie, es wird so viel gelogen! Ich kann nur sagen, was ich gehört habe ...«

»Nun, was haben Sie denn gehört?«

»Man sagt, die Gräfin habe die Absicht, ins Ausland zu reisen, das ist wahrscheinlich erlogen ...«

»Vielleicht!« sagte Peter und blickte sich zerstreut um. »Aber wer ist das?« fragte er, auf einen kleinen, alten Mann mit einem großen, schneeweißen Bart deutend.

»Das? Das ist ein Kaufmann, das heißt, er ist der Gastwirt Wereschtschagin. Sie haben vielleicht diese Geschichten von der Proklamation gehört?«

»Ach, das ist also Wereschtschagin?« sagte Peter. Er blickte das feste, ruhige Gesicht des alten Kaufmanns an und suchte darin den Ausdruck des Verräters.

»Das ist er nicht selbst, das ist der Vater dessen, der die Proklamation geschrieben hat!« sagte der Adjutant. »Jener junge Mensch sitzt im Gefängnis und es wird ihm wahrscheinlich schlimm gehen.«

Ein Greis mit einem Stern und ein anderer Beamter, ein Deutscher, mit einem Kreuz um den Hals, näherten sich der Gruppe.

»Sehen Sie«, erzählte der Adjutant, »das ist eine verwirrte Geschichte. Damals erschien diese Proklamation, es sind zwei Monate her. Das wurde dem Grafen gemeldet; er befahl, eine Untersuchung anzustellen. Man entdeckte, daß die Proklamation sich in den Händen von dreiundsechzig Personen befand. Man kam zu dem einen und fragte: ›Von wem haben Sie sie?‹ – ›Von dem und dem.‹ Dann kam man zu dem anderen und fragte: ›Von wem haben Sie sie?‹ und so weiter. So kamen sie bis auf Wereschtschagin, einen ungebildeten Kaufmann. Auch diesen fragten sie: ›Von wem hast du das?‹

»Da wurde er verlegen und sagte: ›Von niemand, ich habe es selbst geschrieben.‹ Man drohte, man bat, aber er blieb dabei, er habe sie selbst geschrieben. Das wurde dem Grafen gemeldet. Der Graf befahl, ihn vorzuführen. ›Von wem hast du die Proklamation?‹ fragte er. – ›Ich habe sie selbst geschrieben!‹ Nun, Sie kennen den Grafen«, sagte der Adjutant lachend, »er fuhr schrecklich auf. Aber bedenken Sie auch solch eine Frechheit, Lüge und Hartnäckigkeit!«

»Ah, der Graf wollte, daß er auf Klutscharew hinweisen sollte, ich verstehe!« sagte Peter.

»Durchaus nicht!« erwiderte der Adjutant erschrocken. »Klutscharew hatte schon genug auf dem Kerbholz und dafür ist er auch nach Sibirien geschickt worden. Aber die Sache war die: der Graf war sehr aufgeregt. ›Wie konntest du das verfassen?‹ sagte der Graf und nahm vom Tisch eine Hamburger Zeitung. ›Da ist's! Du hast sie nicht verfaßt, sondern übersetzt, und schlecht übersetzt, weil du Dummkopf nicht Französisch verstehst!‹ Nun, was denken Sie? – ›Nein‹, sagte er, ›ich habe keine Zeitung gelesen, ich habe es verfaßt!‹ – ›Nun, wenn es so ist, so bist du ein Verräter, und ich werde dich dem Gericht übergeben, man wird dich aufhängen. Sprich, von wem hast du es erhalten?‹

»›Ich habe keine Zeitung gelesen, ich habe es selbst verfaßt.‹ Dabei blieb er. Der Graf hat auch den Vater vorgefordert, aber er blieb dabei. Man stellte ihn vor Gericht und hat ihn verurteilt, ich glaube, zur Zwangsarbeit. Jetzt ist der Vater gekommen, um für ihn zu bitten. Aber der nichtsnutzige Junge! Wissen Sie, so ein Kaufmannssöhnchen, ein Stutzerchen und Taugenichts, glaubt, der Teufel werde ihn nicht holen. Draußen bei der steinernen Brücke ist die Kneipe seines Vaters, und in der Schenkstube, wissen Sie, hing ein großes Bild von Gott dem Allgewaltigen, in einer Hand hielt er ein Zepter und in der anderen den Reichsapfel. Dieses Bild nahm er auf einige Tage nach Hause, und was hat er gemacht? Er fand so einen schuftigen Maler ...«

Die Erzählung wurde unterbrochen, weil Peter zum Gouverneur gerufen wurde.

185

Peter trat in das Kabinett des Grafen Rostoptschin, der mit finsterer Miene sich die Stirn rieb, während Peter eintrat.

»Ach, guten Tag, großer Krieger!« sagte Rostoptschin. »Wir haben von Ihren ruhmwürdigen Taten gehört, aber darum handelt es sich jetzt nicht. Unter uns gesagt, mein Lieber, Sie sind Freimaurer?« fragte Graf Rostoptschin in strengem Tone.

Peter schwieg.

»Mir ist alles sehr wohl bekannt, mein Lieber, aber ich weiß, es gibt Freimaurer und Freimaurer! Ich hoffe, daß Sie nicht zu denen gehören, die unter dem Vorwand, das Menschengeschlecht zu retten, Rußland zugrunde richten wollen?«

»Ja, ich bin Freimaurer«, erwiderte Peter.

»Nun, sehen Sie, mein Lieber, es wird Ihnen nicht unbekannt sein, daß die Herren Speransky und Magnitzky verschickt worden sind, wohin sie gehören. Dasselbe geschah auch mit dem Herrn Klutscharew und anderen, die unter dem Vorwand der Errichtung des Tempels Salomonis den Tempel ihres Vaterlands zu zerstören suchten. Sie werden begreifen, daß ich dafür Gründe hatte, und daß ich den hiesigen Postdirektor nicht hätte nach Sibirien verschicken können, wenn er nicht ein gefährlicher Mensch wäre. Jetzt habe ich erfahren, daß Sie ihm Ihre Equipage gesandt hatten, um ihn aus der Stadt zu bringen, und daß Sie einmal von ihm Bücher zur Aufbewahrung angenommen haben. Ich liebe Sie und wünsche Ihnen nichts Böses, und da Sie halb so alt sind als ich, so rate ich Ihnen als Vater, jede Beziehung zu Leuten dieser Art abzubrechen und so schnell als möglich von hier abzureisen.«

»Aber wessen ist denn Klutscharew schuldig?« fragte Peter.

»Es ist meine Sache, das zu wissen, und nicht Ihre Sache, mich danach zu fragen!« rief Rostoptschin.

»Wenn man ihn beschuldigen will, eine Proklamation Napoleons verbreitet zu haben, so ist das nicht erwiesen«, sagte Peter, ohne Rostoptschin anzusehen, »und diesen Wereschtschagin ...«

»Nun ist's richtig!« rief Rostoptschin. »Wereschtschagin ist ein Verräter, der die verdiente Strafe erhalten wird«, sagte Rostoptschin, heftig auffahrend. »Aber ich habe Sie nicht gerufen, meine Sachen zu besprechen, sondern um Ihnen einen Rat zu erteilen, oder einen Befehl, wenn Sie wollen. Ich bitte Sie, jede Beziehung mit Herren wie Klutscharew abzubrechen und abzureisen! Ich strafe das Böse, wo ich es finde!« Wahrscheinlich bedachte er, daß er Besuchow anschrie, dem noch nichts vorzuwerfen war, und fügte in freundlichem Tone hinzu: »Wir sind am Vorabend allgemeinen Unglücks, und es ist mir unmöglich, gegen alle liebenswürdig zu sein, mit denen ich zu tun habe. Oft geht mir der Kopf in die Runde! Also, mein Bester, was werden Sie vornehmen? Sie persönlich?«

»Nichts«, erwiderte Peter, der den Ausdruck seines gedankenvollen Gesichts nicht änderte.

Des Grafen Züge verfinsterten sich. »Mein freundschaftlicher Rat ist: machen Sie, daß Sie schnell fortkommen! Wohl dem, der zu gehorchen versteht. Leben Sie wohl, mein Bester! Ach ja«, schrie er ihm durch die Tür nach, »ist es wahr, daß die Gräfin in die Klauen der Väter von der Gesellschaft Jesu gefallen ist?«

Peter gab keine Antwort und verließ das Haus zornig, wie man ihn noch nie gesehen hatte.

Als er nach Hause kam, dämmerte es bereits. Etwa acht verschiedene Leute erwarteten ihn, ein Sekretär eines Komitees, der Oberst seines Bataillons, der Haushofmeister und verschiedene Bittsteller, alle wollten von Peter Befehle haben. Peter begriff nichts davon, interessierte sich nicht für diese Sachen und gab auf alle Fragen nur Antworten, die ihn von diesen Leuten befreien sollten. Endlich allein geblieben, öffnete er den Brief seiner Frau. Als er am anderen Morgen erwachte, kam der Haushofmeister, um ihm zu melden, daß ein Polizeibeamter im Auftrage des Grafen Rostoptschin gekommen sei, um sich zu erkundigen, ob der Graf abgereist sei oder bald abreisen werde. Etwa zehn verschiedene Leute, welche mit Peter irgend etwas zu verhandeln hatten, erwarteten ihn im Salon. Peter kleidete sich hastig an, aber anstatt zu denjenigen zu gehen, die ihn erwarteten, ging er durch die Hintertür auf die Straße hinaus.

Von dieser Zeit an bis zum Ende der Zerstörung Moskaus hat niemand von der Dienerschaft Peter wiedergesehen, ungeachtet aller Nachforschungen, und niemand wußte, wo er sich befand.

186

Graf Rostow blieb mit seiner Familie bis zum 1. September in Moskau, bis zum Tag vor dem Einmarsch des Feindes.

Nach dem Eintritt Petjas in das Kosakenregiment Obolensky und bis zu seiner Abreise nach Bjelaja Zerkow, wo dieses Regiment gebildet wurde, befiel die Gräfin eine heftige Angst. Jetzt erst kam ihr der Gedanke mit schrecklicher Klarheit, daß ihre beiden Söhne sich im Krieg befinden, daß sie ihre Fittiche verlassen hatten und jeder oder beide getötet werden konnten, wie die drei Söhne einer ihrer Bekannten. Sie wollte Nikolai zu sich rufen und selbst zu Petja reisen, um ihn irgendwo in Petersburg unterzubringen, aber beides erwies sich als unmöglich. Die Gräfin konnte nachts nicht mehr schlafen, und wenn sie einschlummerte, sah sie im Traum ihre Söhne getötet. Nach vielen Beratungen verfiel endlich der Graf auf ein Mittel zur Beruhigung der Gräfin. Er ließ Petja aus dem Regiment Obolensky in das Regiment Besuchow versetzen, welches in der Nähe von Moskau gebildet wurde. Dadurch hatte die Gräfin den Trost, wenigstens einen Sohn bei sich in Sicherheit unter ihren Fittichen zu sehen, und sie hoffte, ihn immer in solchen Stellen unterbringen zu können, wo er nicht in die Schlacht kommen konnte. Solange Nikolai in Gefahr war, glaubte die Gräfin zu bemerken, daß sie den Ältesten mehr als die übrigen Kinder liebte. Aber als der Jüngere, dieser Müßiggänger, der schlecht lernte und alle im Hause belästigte und alles im Hause zerbrach, dieser stumpfnasige Petja mit seinen vergnügten, schwarzen Äuglein zu diesen großen, schrecklichen Männern kam, welche dort Schlachten schlugen und daran Freude fanden, da erschien es der Mutter, daß sie ihn noch viel mehr liebe als alle übrigen Kinder. Je näher die Zeit kam, wo Petja nach Moskau zurückkommen sollte, um so mehr nahm ihre Unruhe zu. Sie dachte schon, sie werde dieses Glück nie erleben können.

Gegen Ende August kam ein zweiter Brief von Nikolai. Er schrieb aus Woronesch, wohin er zum Einkauf von Pferden gesandt worden war. Dieser Brief beruhigte die Gräfin nicht; da sie einen Sohn für jetzt außer Gefahr wußte, war sie noch mehr in Angst um Petja.

Obgleich schon seit dem 20. August fast alle Bekannten Rostows Moskau verlassen hatten, und obgleich alle der Gräfin dringend rieten, so schnell wie möglich abzureisen, wollte sie doch damals nichts von Abreise wissen, bevor ihr teurer Petja zurückgekehrt sei. Dieser kam am 28. August, aber die leidenschaftliche Zärtlichkeit, mit der er empfangen wurde, gefiel dem sechzehnjährigen Offizierchen schlecht. Er erriet das Vorhaben seiner Mutter, ihn nicht mehr aus ihren Fittichen zu entlassen, und in der Befürchtung, durch ihre Zärtlichkeit weibisch zu werden, benahm er sich kühl gegen sie, vermied sie und hielt sich ausschließlich zu Natalie.

Bei der gewohnten Sorglosigkeit des Grafen war am 28. August noch nichts zur Abreise bereit, und die Fuhren, die er von den Gütern im Räsanschen und Moskauschen Gouvernement erwartete, um alle Habseligkeiten aus dem Hause fortzubringen, kamen erst am 30. an.

Vom 28. bis zum 31. August befand sich ganz Moskau in Aufregung und Bewegung. Jeden Tag wurden Tausende von Verwundeten durch Moskau geführt und Tausende von Fuhren und Habseligkeiten verließen durch alle Tore die Stadt. Trotz der Proklamation Rostoptschins, vielleicht sogar infolge derselben, liefen die widersprechendsten Gerüchte durch die Stadt. Man sagte, es sei verboten, jemand hinauszulassen, andere dagegen erzählten, man habe alle Heiligenbilder aus den Kirchen fortgebracht und die Leute werden gewaltsam fortgebracht werden. Dann hieß es, nach der Schlacht bei Borodino habe noch eine andere stattgefunden, in welcher die Franzosen geschlagen worden seien, wogegen andere behaupteten, die ganze russische Armee sei vernichtet; es hieß, man habe Verräter gefangen, die Bauern seien aufständisch geworden und plünderten diejenigen, welche abfuhren, und so weiter. Aber alle fühlten, ohne es auszusprechen, daß Moskau jedenfalls dem Feinde überlassen werde und daß man so schnell wie möglich sich selbst und alle Habseligkeiten in Sicherheit bringen müsse. Bis zum 1. September trat keine Veränderung ein; obgleich man wußte, daß der Untergang nahe war, nahm doch das gewohnte Leben in Moskau noch immer seinen Fortgang.

Während dieser drei Tage vor der Einnahme Moskaus war die ganze Familie des Grafen Rostow mit verschiedenen Alltagssorgen beschäftigt. Das Haupt der Familie fuhr beständig in der Stadt umher, sammelte die umlaufenden Gerüchte ein und traf zu Hause oberflächliche, hastige Anordnungen für die Abreise. Die Gräfin beaufsichtigte die Aufräumung der Sachen, war mit allem unzufrieden und eifersüchtig auf Natalie, bei der Petja die ganze Zeit verbrachte. Nur Sonja widmete sich einer praktischen Tätigkeit, dem Einpacken der Sachen, war aber in der letzten Zeit schweigsam und kummervoll. Der Brief Nikolais, in dem er seine Begegnung mit der Fürstin Marie erwähnte, hatte hoffnungsvolle Äußerungen der Gräfin hervorgerufen, welche in dieser Beziehung eine Fügung Gottes sah. »Ich war niemals froh«, sagte die Gräfin, »über die Brautschaft Natalies mit Bolkonsky, aber ich habe ein Vorgefühl und habe es immer gewünscht, daß Nikolai die Fürstin heiraten werde. Und wie schön wäre das!«

Sonja wußte, daß die einzige Möglichkeit, die Umstände der Familie zu verbessern, in einer reichen Heirat Nikolais lag, und daß die Fürstin eine gute Partie war. Aber das war ihr ein sehr bitteres Gefühl. Ungeachtet ihres Kummers, oder vielleicht gerade infolgedessen, nahm sie alle Mühe und Sorge für die Einpackung der Sachen auf sich und war ganze Tage lang eifrig beschäftigt. Der Graf und die Gräfin wandten sich immer an sie, wenn sie etwas zu befehlen hatten. Petja und Natalie dagegen leisteten den Eltern nicht nur keine Hilfe, sondern waren allen im Hause lästig und störend. Fast den ganzen Tag hörte man im Hause ihr geräuschvolles Wesen, Schreien und Lachen. Petja freute sich, daß er, nachdem er das Haus als Knabe verlassen hatte, jetzt, wie dies alle sagten, als junger Mann zurückgekehrt war, und hauptsächlich deshalb, weil Natalie so froh und heiter war, deren Stimmung er stets geteilt hatte, Natalie aber befand sich deshalb in lustiger Stimmung, weil jemand zugegen war, der über sie entzückt war, und dieses Entzücken anderer war die Wagenschmiere, welche immer notwendig war, um ihre Maschine in Bewegung zu setzen. Sie waren überhaupt vergnügt darüber, daß man sich bei Moskau schlagen werde, daß alle flohen, daß überhaupt etwas Ungewöhnliches vorging, was immer den Menschen, besonders den jungen Menschen erheitert.

187

Am Sonnabend, den 31. August, ging im Hause Rostow alles drunter und drüber. Alle Türen waren weit offen, alle Möbel wurden umgestellt oder fortgetragen, die Spiegel und Bilder abgenommen. In den Zimmern standen Koffer und Kisten, Heu und Packpapier lag umher. Die Dienerschaft und Bauern trugen Sachen hinaus und gingen mit schweren Schritten über das Parkett. Draußen drängten sich die Bauernwagen, einige waren schon beladen und festgebunden, andere noch leer. Der Graf war seit dem Morgen ausgefahren, niemand wußte, wohin; die Gräfin hatte Kopfschmerzen von all dem Lärm bekommen und lag in einem Salon mit einem Essigumschlag um die Stirne. Petja war nicht zu Hause, Sonja beaufsichtigte im Salon das Einpacken von Kristall und Geschirr. Natalie saß auf der Diele in ihrem Zimmer zwischen umherliegenden Kleidern, Bändern und Schärpen. Sie war beschämt darüber, daß sie nichts tat, während alle so eifrig arbeiteten, und seit dem Morgen versuchte sie es mehrmals, mitzuhelfen. Aber sie vermochte es nicht, ließ immer wieder alles liegen und ging in ihr Zimmer, um ihre Sachen einzupacken. Anfangs belustigte sie sich damit, ihre alten Kleider an die Zofen zu verteilen, dann aber, als die übrigen eingepackt werden sollten, erschien ihr das langweilig.

»Dunjascha«, sagte sie, »du wirst das alles zurechtlegen, mein Täubchen, nicht wahr?«

Dunjascha versprach, alles zu machen, und Natalie setzte sich mit einem alten Ballkleid auf die Diele und dachte nicht mehr an das, was jetzt geschehen sollte. Sie stand auf und betrachtete sich im Spiegel.

Auf der Straße hielt ein ungeheurer Wagenzug mit Verwundeten. Die Mädchen und Diener, die Köche, Kutscher und Stallknechte eilten zum Tore, um die Verwundeten zu sehen. Natalie band ein weißes Taschentuch um die Haare, hielt es mit beiden Händen an den Enden fest und ging auf die Straße hinaus. Die alte Haushälterin Mawra ging an einen Wagen und sprach mit einem darinliegenden, bleichen Offizier. Natalie näherte sich und hörte schüchtern zu, während sie immer noch die Zipfel ihres Tuches mit beiden Händen festhielt.

»Sie haben niemand In Moskau?« fragte Mawra. »Sie könnten ruhiger sein irgendwo in einer Wohnung, vielleicht gleich hier bei uns. Die Herrschaft reist ab.«

»Ich weiß nicht, ob die Herrschaft das erlauben wird«, sagte der Offizier mit schwacher Stimme. »Fragen Sie den Kommandierenden!« Dabei deutete er auf einen dicken Major, welcher längs der Wagenreihe näherkam. Natalie blickte angstvoll den Verwundeten an. »Können die Verwundeten bei uns im Hause bleiben?« fragte sie den Major.

Der Major legte lächelnd die Hand an den Schirm. »Was ist Ihnen gefällig, Mamsell?« fragte er lachend.

Natalie wiederholte ihre Frage mit ernster Miene.

»O ja, warum nicht?« erwiderte der Major. Der Wagen des Offiziers und noch zehn andere mit Verwundeten fuhren in den Hof ein. Natalie war sichtlich erfreut über dieses ungewöhnliche Ereignis und die Begegnung mit fremden Menschen und bemühte sich, mit Mawra soviel als möglich Verwundete in den Hof hineinzuführen.

»Aber man muß es doch erst dem Herrn Papa sagen«, meinte Mawra.

»Ach, das ist doch ganz gleichgültig, wir richten uns auf einen Tag im Salon ein und können ihnen unsere ganze Wohnung überlassen. »Aber bedenken Sie, Fräulein, man könnte doch erst fragen.« Natalie eilte ins Haus und ging auf den Zehenspitzen nach der halb offenen Tür des kleinen Salons, aus welchem ein Geruch von Essig und Hoffmannstropfen herauskam.

»Mama«, sagte Natalie und ließ sich auf die Knie vor ihrer Mutter nieder, »verzeihen Sie, daß ich Sie geweckt habe! Mawra schickt mich, unten sind verwundete Offiziere, welche kein Unterkommen haben; ich weiß, Sie erlauben es!« sagte sie hastig.

»Was für Offiziere? Ich begreife nichts!« sagte die Gräfin.

Natalie lächelte und auch die Gräfin lächelte schwach.

»Ich wußte, daß sie es erlauben werden!« Und Natalie küßte ihre Mutter, stand auf und ging zur Tür.

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