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каминер ich mach mir sorgen,mama.pdf
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Der Kindergeburtstag

Andy, der ehemalige Kindergartengenosse unserer Tochter, feierte seinen siebten Geburtstag. Drei Kinder und sechs Erwachsene kamen zusammen, um dieses Ereignis zu feiern. Obwohl sich keine rechte Feierlaune einstellen wollte: Die allgemeine Nachdenklichkeit der Eltern, hervorgerufen durch eine endlose Schleife schlechter Nachrichten aus dem Fernsehen

– der Krieg im Irak, die Terroranschläge in Europa –, diese Nachdenklichkeit also hatte sich merkwürdigerweise auch auf die Kinder übertragen. Sie saßen im Kinderzimmer auf dem Boden, waren leiser als sonst und halfen dem Geburtstagskind, seine Geschenke auszupacken: einen grünen Polizisten auf einem Motorrad mit mehreren Ersatzakkus, eine PlastikEisenbahn, ein Segelschiff mit Kanonen und Piraten und ein rotes Maschinengewehr.

Das wertvollste Geschenk hatte Andy, der besonders Dinosaurier mochte, von seiner Tante bekommen: eine lebende Schildkröte, die sich bereits im Kinderzimmer versteckt hatte. Dort, unter dem Kleiderschrank, versuchte sie ihren Kulturschock zu überwinden. Die Kinder legten vor dem Schrank Futter aus, um die Schildkröte zu zivilisieren. Die Erwachsenen tranken in der Küche Rotwein und Bier und unterhielten sich über den Kampf der Kulturen. Die Mutter von Andy meinte, dass die Terroranschläge von einer Krise der islamischen Kultur zeugten. Der Glaube an eine fortschrittliche Entwicklung der islamistischen Staaten sei wacklig geworden, und so wurden die Gläubigen zu Fanatikern und schließlich Selbstmördern, um sich in ihrem Glauben zu bestärken. Andys Tante meinte dagegen, dass wir Europäer nicht im Stande seien, die arabischen Beweggründe nachzuvollziehen. »Ost ist Ost, und West ist West, und wir kommen nie zusammen«, meinte sie. Meine Frau, die über

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einige persönliche Erfahrungen mit dem Terrorismus in Tschetschenien verfügt, verdammte sicherheitshalber alle Kulturen und Zivilisationen samt ihrer Terroristen. Andys Vater, ein Bauingenieur, war der Meinung, man dürfe sich nun von den Problemen der anderen nicht mehr so abschotten. Die Erste Welt müsse die Dritte Welt nach unserem Vorbild modernisieren, um die eigene Demokratie zu retten. Besonderes wichtig seien Bildung und Aufklärung, meinte er, wir müssten auf die Bildung der neuen Generationen in den arabischen Ländern Einfluss nehmen, sie also für unsere Lebensweise begeistern.

Die Kinder riefen uns ins Kinderzimmer: Sie hatten die Schildkröte gefangen und waren gerade dabei, sie voll zu modernisieren. Sie sollte nun ein aktives Mitglied ihrer Lebensgemeinschaft werden. Als Erstes schraubte Andy vier kleine Rädchen von seiner Eisenbahn ab und befestigte sie mit Klebeband an dem Panzer der Schildkröte. Dadurch sollte die Schildkröte auch an ihrer Bewegungsfreiheit in vollem Ausmaß teilnehmen können. Rein technisch gesehen hätte das gut funktionieren können. Die kleinen Rädchen bildeten genau den richtigen Abstand zwischen dem Reptil und dem Fußboden, sodass sie ohne große Anstrengung durch die Wohnung rollen konnte. Die derart modernisierte Schildkröte bewegte sich nun aber gar nicht mehr. Sie wirkte völlig paralysiert, also überhaupt nicht glücklich.

»Das ist Tierquälerei!«, entsetzte sich Andys Mutter. »Eine Schildkröte ist nun mal kein Porsche, für sie ist es total unorganisch, auf Rädern zu rollen. Macht sie sofort wieder ab!«

Andys Vater, der Bauingenieur, widersprach ihr: »Warte nur ab, die Schildkröte wird schon in den Genuss der Bewegungsfreiheit kommen und verdammt froh sein, rollen zu können! Sie braucht nur ein bisschen Zeit!«

Wir gingen zurück in die Küche, um weiter zu trinken und über den »Clash der Zivilisationen« zu diskutieren. Nach einer halben Stunde erschien Andy in der Küche und behauptete: »Die

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Schildkröte rollt jetzt!« Wir gingen ins Wohnzimmer. Erstaunlich, aber wahr: Die Schildkröte raste tatsächlich durch die Wohnung. Sie nahm sogar Anlauf, zog ihren Kopf ein und knallte gegen die Wände. Doch viel Spaß schien sie dabei nicht zu haben. An ihren chaotischen Bewegungen konnte man überhaupt nicht nachvollziehen, wohin sie wollte.

»Ich habe schon immer gesagt, eine fremde Kultur bleibt eine fremde Kultur, egal, wie man sie modernisiert«, stieß Andys Tante hervor.

Andys Vater gab sich nicht gleich geschlagen. »Alles Quatsch«, sagte er, »sie braucht einfach eine Bremse.«

»Au ja!«, schrien die Kinder. »Lass uns eine Bremse für die Schildkröte bauen.«

Zusammen mit den Kindern fing Andys Vater an, das Segelschiff auseinander zu nehmen. Wir anderen verdrückten uns in die Küche.

»Wenn man nur wüsste, was diesen fremden Kulturen tatsächlich fehlt«, seufzte die Tante. »Aber wir kennen sie gar nicht. Alle unsere Kenntnisse bestehen fast nur aus Urlaubserlebnissen in Tunesien, Algerien oder Marokko. Wir haben einfach keine Ahnung!«

Meine Frau plädierte des ungeachtet für gezielte militärische Anschläge. Es kam keine Einigkeit zu Stande.

Als wir nach einer Stunde wieder das Wohnzimmer betraten, um mit unserer Tochter nach Hause zu gehen, war die Schildkröte kaum noch als solche zu erkennen. Es hatte ein ungeheurer Modernisierungsschub stattgefunden. Außer den Rädern hatte sie nun oben auf dem Panzer noch ein Segel und hinten einen kleinen Ventilator zum Steuern sowie eine durchsichtige Plastikhülle um den Kopf, die wahrscheinlich die Rolle eines Airbags spielen sollte. Sie war damit eindeutig übermodernisiert, bewegte sich nicht von der Stelle und guckte böse. Die Schildkröte lehnte demonstrativ alle Werte unserer westlichen

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Zivilisation ab, die Schnellbewegungsfreiheit ebenso wie alle Sicherheitsmaßnahmen. Wahrscheinlich wollte sie einfach eine ganz normale Schildkröte sein, so eine wie du und ich.

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