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Kehlmann_Daniel_-_Die_Vermessung_der_Welt

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09.05.2015
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nahm zögernd eine Hand und biß hinein. Es schmecke nicht schlecht, aber ihm sei nicht wohl dabei. Ob es die Leute beleidige, wenn er nicht aufesse?

Der Missionar schüttelte mit vollem Mund den Kopf. Das interessiere keinen!

In der Nacht hielt der Lärm der Tierstimmen sie wach. Die eingesperrten Affen hämmerten gegen die Gitter und wollten nicht aufhören zu schreien. Humboldt schrieb den Anfang einer Betrachtung über die Nachtlaute des Waldes und das Tierdasein, welches man als fortgesetzten Kampf, mithin als das Gegenteil des Paradieses verstehen müsse.

Er vermute, sagte Bonpland, daß der Missionar gelogen habe.

Humboldt sah auf.

Der Mann lebe schon lange hier, sagte Bonpland. Der Urwald habe große Kraft. Es sei ihm wohl peinlich gewesen, darum seine Beteuerung. Die Leute hier äßen Menschenfleisch, das habe Pater Zea gesagt, und jeder wisse es. Was könne ein Missionar allein dagegen tun?

Unsinn, sagte Humboldt.

Doch, sagte Julio. Das klinge vernünftig.

Humboldt schwieg einen Moment. Er bitte um Verzeihung. Sie seien alle schon arg mitgenommen. Er habe viel Verständnis. Aber wenn noch einmal jemand die Unterstellung äußere, daß der Patensohn des Herzogs von Braunschweig Menschenfleisch gegessen habe, werde er zur Waffe greifen.

Bonpland lachte.

Er meine es ernst, sagte Humboldt. Doch nicht wirklich, sagte Bonpland.

Allerdings.

Alle schwiegen beklommen. Bonpland holte Luft, sagte jedoch nichts. Einer nach dem anderen drehten sie sich zum Feuer und stellten sich schlafend.

Von nun an wurde Bonplands Fieber schlimmer. Immer öfter stand er in den Nächten auf und sank nach einigen Schritten kichernd in sich zusammen. Einmal war Humboldt, als beuge sich jemand über ihn. Schemenhaft erkannte er Bonplands Gesicht, die Zähne gefletscht, in der Hand eine Machete. Hastig überlegte er. Man träumte hier Sonderbares, das wußte er nur zu gut. Er brauchte Bonpland. Er mußte ihm vertrauen. Es war also ein Traum. Er schloß die Augen und zwang sich, bewegungslos liegen zu bleiben, bis er das Geräusch von Schritten hörte. Als er das nächste Mal blinzelte, lag Bonpland mit geschlossenen Augen neben ihm.

Tagsüber flossen die Stunden ineinander; die Sonne hing sehr tief und feurig über dem Fluß, es schmerzte, sie anzusehen, die Moskitos griffen von allen Seiten an, selbst die Ruderer waren zu erschöpft zum Reden. Eine Zeitlang folgte ihnen eine metallene Scheibe, flog vor und dann wieder hinter ihnen, glitt lautlos durch den Himmel, verschwand, tauchte wieder auf, kam für Minuten so nahe, daß Humboldt mit dem Fernrohr die gekrümmte Spiegelung des Flusses, ihres Bootes und seiner selbst auf ihrer gleißenden Oberfläche wahrnehmen konnte. Dann raste sie davon und kam nie wieder.

Bei klarem Wetter erreichten sie das Ende des Kanals. Im Norden erhoben sich granitweiße Berge, auf der anderen Seite erstreckten sich grasige Ebenen. Humboldt fixierte die untergehende Sonne mit dem Sextanten und

maß den Winkel zwischen der Jupiterbahn und jener des vorbeiwandernden Mondes.

Jetzt erst, sagte er, existiere der Kanal wirklich. Stromabwärts, sagte Mario, werde es schneller voran-

gehen. Man müsse die Strudel nicht mehr fürchten und könne sich in der Mitte halten. So entkomme man den Moskitos.

Das bezweifle er, sagte Bonpland. Er glaube nicht mehr an einen Ort ohne sie. Selbst in seine Erinnerungen seien sie geraten. Denke er an La Rochelle, so finde er die Stadt voller Insekten.

Daß der Kanal jetzt auf den Karten verzeichnet sei, erklärte Humboldt, werde die Wohlfahrt des gesamten Erdteils befördern. Man könne nun Güter quer über den Kontinent bringen, neue Handelszentren würden entstehen, ungeahnte Unternehmungen seien möglich.

Bonpland bekam einen Hustenanfall. Tränen liefen ihm über das Gesicht, er spuckte Blut. Hier sei nichts, keuchte er. Es sei heißer als in der Hölle, es gebe nur Gestank, Moskitos und Schlangen. Hier werde nie etwas sein, und dieser dreckige Kanal werde nichts daran ändern. Könnten sie jetzt endlich zurück?

Humboldt starrte ihn ein paar Sekunden an. Das habe er noch nicht entschieden. Die Mission Esmeralda sei die letzte christliche Siedlung vor der Wildnis. Von dort aus komme man durch unerforschtes Gebiet in wenigen Wochen zum Amazonas. Dessen Quellen habe noch keiner gefunden.

Mario bekreuzigte sich.

Andererseits, sagte Humboldt nachdenklich, sei es vielleicht unklug. Die Sache sei nicht ungefährlich. Wenn er

nun unterginge, verschwänden mit ihm alle Funde und Ergebnisse. Niemand würde davon erfahren.

Das dürfe man nicht riskieren, sagte Bonpland. Tollkühn wäre es, sagte Julio.

Gar nicht zu reden von denen! Mario zeigte auf die Leichen. Niemand würde sie zu sehen kriegen!

Humboldt nickte. Manchmal müsse man zurückstehen können.

Die Mission Esmeralda bestand aus sechs Häusern zwischen riesigen Bananenstauden. Es gab nicht einmal einen Missionar, nur ein alter spanischer Soldat stand fünfzehn Familien von Indianern vor. Humboldt engagierte einige Männer, um die Termiten aus dem Holz des Bootes zu schaben.

Die Entscheidung, nicht weiterzufahren, sei die richtige, sagte der Soldat. In der Wildnis hinter der Mission töteten die Menschen ohne Hemmungen. Sie hätten mehrere Köpfe, seien unsterblich und unterhielten sich in Katzensprachen.

Humboldt seufzte bekümmert; es ärgerte ihn, daß nun ein anderer die Amazonasquellen finden würde. Um sich abzulenken, studierte er die Bilder von Sonnen, Monden und kompliziert gerollten Schlangen, die fast hundert Meter über dem Fluß in den Fels geritzt waren.

Früher müsse das Wasser höher gestanden haben, sagte der Soldat.

So hoch nicht, sagte Humboldt. Offenbar seien die Felsen niedriger gewesen. Er habe einen Lehrer in Deutschland, dem er das kaum mitzuteilen wage.

Oder fliegende Menschen, sagte der Soldat. Humboldt lächelte.

Viele Wesen flögen, sagte der Soldat, und keiner finde etwas dabei. Hingegen habe noch niemand gesehen, wie ein Berg sich aufrichte.

Menschen flögen nicht, sagte Humboldt. Selbst wenn er es sähe, würde er es nicht glauben.

Und das sei dann Wissenschaft?

Ja, sagte Humboldt, genau das sei Wissenschaft.

Als das Boot wiederhergestellt und Bonplands Fieber gesunken war, traten sie den Rückweg an. Zum Abschied bat der Soldat Humboldt, in der Hauptstadt ein gutes Wort für ihn einzulegen, damit man ihn anderswohin versetze. Es sei ja nicht auszuhalten. Erst neulich habe er eine Spinne in seinem Essen gefunden, er hielt beide Handflächen nebeneinander, so groß! Zwölf Jahre, das sei einem Menschen nicht zuzumuten. Hoffnungsvoll schenkte er Humboldt zwei Papageien und winkte ihnen lange hinterher.

Mario hatte recht gehabt: Stromabwärts ging es schneller, und die Insekten waren in der Flußmitte nicht so aggressiv. Nach kurzer Zeit erreichten sie die Jesuitenmission, wo Pater Zea sie mit Verwunderung begrüßte.

Er habe nicht erwartet, sie so bald wiederzusehen. Bemerkenswerte Robustheit! Wie seien sie mit den Kannibalen zurechtgekommen?

Er habe keine getroffen, sagte Humboldt.

Komisch, sagte Pater Zea. Praktisch alle Stämme dort unten seien Menschenfresser.

Könne er nicht bestätigen, sagte Humboldt und runzelte die Stirn.

Seine Missionsbewohner hätten seit ihrer Abfahrt keine Ruhe mehr gefunden, sagte Pater Zea. Es habe sie

doch sehr aufgewühlt, daß man ihre Vorfahren aus den Gräbern geholt habe. Vielleicht sei es besser, sie wechselten gleich in ihr altes Boot und reisten weiter.

Es sehe aus, als stehe ein Unwetter bevor, wandte Humboldt ein.

Das dürfe man nicht abwarten, sagte Pater Zea. Die Lage sei ernst, und er könne für nichts garantieren.

Humboldt überlegte einen Moment. Der Obrigkeit, sagte er dann, müsse man Folge leisten.

Am Nachmittag darauf ballten sich Wolken zusammen, Donner rollte fern über die Ebene, und plötzlich waren sie im stärksten Gewitter, das sie je erlebt hatten. Humboldt ließ die Segel streichen und Kisten, Leichen und Tierkäfige auf einer Felseninsel abladen.

Das habe man nun davon, sagte Julio.

Regen habe noch keinem geschadet, sagte Mario. Regen schade jedem, sagte Carlos. Er könne einen

umbringen. Er habe schon manchen umgebracht. Sie würden nie mehr heimkommen, sagte Julio.

Und wenn schon, sagte Mario. Daheim habe es ihm nie gefallen.

Daheim, sagte Carlos, sei der Tod.

Humboldt wies sie an, das Boot drüben am Ufer zu vertäuen. Sie legten ab, in diesem Moment ließ eine Flutwelle den Fluß anschwellen und riß das Boot mit. Bonpland und Humboldt sahen noch, wie eines der Ruder davonflog, dann nahm das schäumende Wasser ihnen die Sicht. Sekunden später blitzte das Boot noch einmal weit in der Ferne auf, dann war es mit allen vier Ruderern dahin.

Und jetzt, fragte Humboldt.

Da sie nun einmal hier seien, sagte Bonpland, könnten sie doch die Felsen untersuchen.

Eine Höhle führte unter einen der Katarakte. Über ihren Köpfen donnerte das Wasser, durch Löcher in der Decke stürzte es in breiten Säulen herab, zwischen denen man trocken stehen konnte. Mit heiserer Stimme schlug Bonpland vor, die Temperatur zu messen.

Humboldt wirkte erschöpft. Er könne es nicht erklären, aber in manchen Augenblicken sei er nahe daran, alles fahrenzulassen. Mit langsamen Bewegungen hantierte er an den Instrumenten. Und jetzt hinaus, die Höhle könne jeden Moment überschwemmt werden!

Eilig liefen sie ins Freie.

Der Regen hatte an Stärke gewonnen. Das Wasser ergoß sich über sie wie aus Eimern, tränkte ihre Kleider, füllte die Schuhe und machte den Boden so glitschig, daß sie kaum Halt fanden. Sie setzten sich und warteten. Krokodile glitten durch die Gischt. In den Käfigen brüllten die Affen, trommelten an die Türen und rissen an den Gittern. Die zwei Papageien hingen wie durchnäßte Handtücher an ihren Stangen. Der eine glotzte bedrückt vor sich hin, der andere murmelte unablässig Beschwerden in schlechtem Spanisch.

Und was, fragte Humboldt, wenn das Boot nicht zurückkomme?

Das werde es schon, sagte Bonpland. Nur die Ruhe. Der Regen, als wollte der Himmel sie von der Insel

spülen, wurde noch stärker. Der Horizont flackerte von Blitzen, der Donner brach sich an den Uferfelsen jenseits des Flusses, so daß das Echo jedes Schlages sich in den nächsten mischte.

Nicht gut sei das, sagte Humboldt. Sie seien von Wasser umgeben und säßen am höchsten Punkt. Hoffentlich habe Herr Franklin mit seiner Theorie des Blitzschlags unrecht.

Bonpland holte schweigend seine Flasche hervor und trank.

Und er sei überrascht, sagte Humboldt, daß es in den Stromschnellen so viele Echsen gebe. Das widerspreche den Annahmen der Zoologie.

Bonpland nahm noch einen Schluck.

Andererseits habe man ja Beispiele für Fische, die sogar Wasserfälle emporklettern könnten.

Bonpland zog die Augenbrauen hoch. Der Donner war zu einem nicht mehr nachlassenden Getöse geworden. Am anderen Ende der Insel, keine fünfzig Schritte von ihnen, wuchtete sich etwas Großes und Dunkles auf den Stein.

Wenn sie stürben, sagte Humboldt, würde niemand von ihnen erfahren.

Und wenn schon, sagte Bonpland und warf die leere Flasche weg. Tot sei tot.

Humboldt sah besorgt nach dem Krokodil. Falls sie zurück zur Küste kämen, werde er alles seinem Bruder schicken: Pflanzen, Karten, Tagebücher und Sammlungen. Auf zwei getrennten Schiffen. Dann erst werde er zu den Kordilleren aufbrechen.

Den Kordilleren?

Humboldt nickte. Er wolle die großen Vulkane sehen. Die Neptunismusfrage müsse ein für allemal geklärt werden.

Bald wußten sie nicht mehr, wie lange sie warteten.

Einmal war eine tote Kuh vorbeigetrieben, dann der Deckel eines Klaviers, dann ein Schachbrett und ein zerbrochener Schaukelstuhl. Humboldt holte vorsichtig die Uhr hervor, horchte auf ihr leises Pariser Ticken und spähte durch die Wachstuchhülle nach den Zeigern. Entweder war der Beginn des Gewitters erst wenige Minuten her, oder sie saßen schon über zwölf Stunden fest, oder aber der Regen hatte nicht bloß Fluß, Wald und Himmel, sondern die Zeit selbst durcheinandergebracht, hatte ein paar Stunden einfach fortgespült, so daß der neue Mittag mit der Nachtstunde und dem nächsten Morgen zusammenfloß. Humboldt legte die Arme um seine Knie.

Manchmal, sagte er, wundere es ihn. Von Rechts wegen hätte er Bergwerke inspizieren sollen. Hätte ein deutsches Schloß bewohnt, Kinder gezeugt, sonntags Hirsche gejagt und einmal im Monat die Stadt Weimar aufgesucht. Und nun sitze er hier, bei Sintflut, unter fremden Sternen, ein Boot erwartend, das nicht kommen werde.

Bonpland fragte, ob es ihm als Fehler erscheine. Schloß, Kinder, Weimar. Das sei doch etwas!

Humboldt nahm seinen Hut ab, den das Wasser in einen nutzlosen Klumpen verwandelt hatte. Eine Fledermaus stieg aus dem Wald, verfing sich im Sturm, wurde vom Regen hinuntergedrückt und nach ein paar Flügelschlägen vom Wasser mitgerissen.

Der Gedanke sei ihm nie gekommen. Nicht für eine einzige Sekunde?

Humboldt beugte sich vor und spähte nach dem Krokodil. Er überlegte. Dann schüttelte er den Kopf.

Die

Sterne

Nachdem er angekündigt hatte, wo und wann der Planet zum nächsten Mal auftauchen werde und ihm natürlich keiner geglaubt hatte und der elende Steinklumpen dann doch auf Tag und Stunde genau aus der Nacht getreten war, war er jetzt also berühmt. Die Astronomie war eine populäre Wissenschaft. Könige interessierten sich dafür, Generäle verfolgten ihre Entwicklungen, Fürsten schrieben Preise für Entdeckungen aus, und die Zeitungen berichteten über Maskelyne, Mason, Dixon und Piazzi wie über Helden. Einer, der für immer den Horizont der Mathematik erweitert hatte, war eine Kuriosität. Wer aber einen Stern entdeckte, ein gemachter Mann.

Ja nun, sagte der Herzog, da sehe man es. Jetzt habe er es doch geschafft.

Gauß, der nicht wußte, was er darauf antworten sollte, verbeugte sich stumm.

Und sonst, fragte der Herzog nach der üblichen Nachdenkpause. Persönlich? Er habe gehört, man wolle heiraten?

Doch doch, sagte Gauß, ja.

Der Audienzraum hatte sich verändert. Die Deckenspiegel, offenbar aus der Mode gekommen, hatte man durch goldenes Blattwerk ersetzt, und es brannten weni-

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